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Dem Stier geräumt, dort Nacht dem Scorpion.

4
Drum, wie ein Mann, der, von nichts angezogen,

Was sich auch zeige, seines Weges zieht
Vom Drang der Noth zu größter Eil’ bewogen,

7
So drangen wir in’s höhere Gebiet

Durch eine Stiege, die uns so beschränkte,
Daß uns die Enge von einander schied.

10
Und wie ein Störchlein, das die Flügel schwenkte,[1]

Aus Lust zum Flug, dann aber, sonder Muth,
Vom Neste fortzuziehn, sie wieder senkte,

13
So ich, bald lodernd, bald verlöscht die Glut

Der Fragelust, das Antlitz also zeigend,
Wie der, der sich zum Sprechen anschickt, thut.

16
Da sprach mein Herr, obwohl voll Eifer steigend:

„Laß nicht der Rede Pfeil unabgeschnellt,
Die Sehne nur bis hin zum Drücker beugend.“

19
Worauf ich, sicher durch dies Wort gestellt,

Den Mund erschloß: „„Wie wird man hier so mager,
Hier, wo kein Leib ist, welchen Speis’ erhält?““

22
Drauf Er: „Gedächtest du an Meleager,[2]

Der eben, wie verzehrt ein Holzbrand ward,
Sich abgezehrt, du wärst kein solcher Frager.

25
Und dächtest du, wie, gleich an Mien’ und Art[3]

  1. 10. Dante ist aus Ehrfurcht unentschlossen, ob er fragen dürfe eder nicht. Diese Ungewißheit stellt er in dem obigen Gleichnisse meisterhaft dar.
  2. 22. Die Parzen hatten bei Meleagers Geburt bestimmt, daß er so lange leben solle, als ein gewisses Holzscheit nicht von der Flamme werde verzehrt werden. Dieses Scheit verwahrte seine Mutter Althäa gleich dem köstlichsten Kleinode. Als aber Meleager bei der kalydonischen Jagd die Brüder seiner Mutter tödtete, warf diese das verhängnißvolle Holz in die Flammen, und wie das Holz verbrannte, wurde er von inneren Gluten verzehrt.
  3. [25 ff. Es handelt sich um die, auch wohl den Lesern Dante’s schon oft aufgestiegene Frage: Wie die Seelenleiden der Schatten – denn solche sind es ja, vgl. zu Hölle 3, 34 – sich in und an ihrem Schattenleib äußern können? Die Anwort, die Dante hier giebt ist die, daß die freie, unsterbliche Seele sich den Schattenleib, eben so gut wie den Erdenleib anbilde, zu ihrem Organ, das jede ihrer Empfindungen wiedergebe, zu einem Spiegel, der jede ihrer Bewegungen rückstrahle (V. 25, 26). So komm es, daß [337] auch die Schatten hier, ohne körperliche Einwirkung, durch das Walten unsichtbarer Kräfte, sich abgezehrt zeigen, wie einst Meleager durch unsichtbaren Zusammenhang gleichmäßig mit jenem Holzscheite dahinschwand (V. 22, 23). – Um diesen Satz noch weiter zu begründen, wird im Folgenden ausführlich die aristotelische Theorie von der Entstehung der Seele, von der Bildung des Menschen im Mutterleibe und von derjenigen des Schattenleibs nach dem Tode, unter Anschluß an Thomas von Aquino, vorgetragen. Daß Statius der Sprechende ist, mag sich daraus wieder erklären, daß er für einen geheimen Christen galt, also die vom Christenthum erleuchtete Philosophie repräsentiren kann.]
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 336. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_336.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)