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Ihr Anzug war ein schlechtes Bußgewand;[1]

Sie lehnten sich an sich, und ihren Rücken
Sie allesammt an jene Felsenwand;

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Den Blinden gleich, die Noth und Hunger drücken,[2]

Und die an Ablaßtagen bettelnd stehn,
Und, Kopf an Kopf gedrängt, sich kläglich bücken,

64
Indem sie, um das Mitleid zu erhöhn,

Nicht minder mit den jämmerlichen Mienen,
Als mit den lauten Jammerworten flehn.

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Und, gleich den armen Blinden, war auch ihnen

Den bangen Schatten, welchen ich genaht,
Der Glanz des Himmelslichts umsonst erschienen.

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Gebohrt war durch die Augenlider Draht,

Ihr Auge, wie des Sperbers, ganz vernähend,[3]
Der, wild, nicht nach des Jägers Willen that.

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Mir aber schien es Unrecht, daß ich sehend,

Doch ungesehn dort ging, drum wandt’ ich mich
Zum weisen Rath, nach seiner Meinung spähend.

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Er, der sogleich errieth, weswegen ich

Noch stumm, auf ihn die Blicke fragend lenkte,
Sprach: „Rede jetzt, doch kurz und sinnig sprich.“

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An jener Seite, wo der Fels sich senkte,

Ging mir Virgil, wo leicht zu fallen war,
Weil keine Brustwehr dort den Rand verschränkte;

82
Zur andern Seite saß die fromme Schaar,

  1. 58. Der Neid ist im Leben blind für eigenes Glück und wirft unklare scheele Blicke auf das fremde. Dem hierdurch erzeugten Seelenzustande finden wir das allerdings sonderbare Mittel der Reinigung entsprechend. Indem die Schatten gegenseitig sich in Liebe stützen, beweisen sie schon, daß sie Fortschritte in der Läuterung gemacht und erkannt haben, daß die wahren Güter um so größeres Glück geben, je Mehrere daran Theil nehmen. (Vgl. Ges. 15 V. 43 ff.) Unter dem Felsen, an welchen sie sich lehnen, kann man den Glauben an den Erlöser und die durch ihn erlangte göttliche Gnade verstehen.
  2. 61. Den Blinden gleich etc. Auch hier möge man nicht unerwogen lassen, daß die Bilder aus dem italienischen Volksleben entnommen sind.
  3. 71. Um die Sperber zu zähmen und sie zur Jagd besser abzurichten, sollen ihnen, wenn sie unruhig waren, die Augenlieder auf einige Zeit zugenäht worden sein. Virgil (die Vernunft etc.) geht dem Dichter auf derjenigen Seite, wo er bei einem falschen Tritte leicht fallen könnte.
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 270. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_270.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)