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          47. Die Rebe.

„Aus diesem dürren Holze da
Kann doch gewiß nichts wachsen. Ja,
Wenn es so grün und g’rade wär’,
Dann brächt’ es auch ein Früchtlein her.“

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So sprach das Kind. Ein halbes Jahr

Ging d’rüber, und begierig war
Das Kind, doch wieder anzuschau’n
Das dürre Holz. Kaum konnt’ es trau’n
Dem eig’nen Aug’; denn eine Last

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Von zwanzig, dreißig Trauben fast

Hing an der Rebe. „Meinst du nun,
Ich dürres Holz könn’ gar nichts thun?“
So fragt die Rebe. Nicht der Schein
Muß künftighin dein Lehrer sein.

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Auch mancher Mensch ist unscheinbar,

Doch bringt er dir viel Gutes dar.


          48. Der Apfelkern.

Kind. Ich steckte dich da in die Erden,
          Du solltest mir ein Bäumchen werden,
          Und Aepfel bringen, gelb und roth;
          Doch thu’st du noch, als sei’st du todt.

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          Das, Kernlein, ist nicht brav von dir,

          Du solltest besser wachsen mir!

Kern (der zum Boden herausguckt). Das Wachsen geht nicht so geschwind,
          Wie du es meinst, mein liebes Kind.

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm August Corrodi: Fünfzig Fabeln und Bilder aus der Jugendwelt. Zürich 1876, Seite 64. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Corrodi-Fabeln_und_Bilder.djvu/64&oldid=- (Version vom 17.8.2016)