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Eine dritte Bewegung ist die der Abweichung.[1] Die Achse der täglichen Umdrehung hat nämlich nicht allenthalben den gleichen Abstand von der Bahnachse[2], sondern macht mit ihr nach einem gewissen Punkte der Bahn hin einen Winkel, welcher für unser Jahrhundert nahezu 23 und einen halben Grad erreicht. Während somit der Erdmittelpunkt stets in der Ebene der Ekliptik, d. h. in der großen Bahnlinie bleibt, beschreiben die beiden Pole der Erdachse bei stets gleichbleibendem Abstand kleine Kreise um die Pole der Ekliptik. Auch diese Bewegung hat ihre jährliche mit der großen Umlaufszeit[3] nahe übereinstimmende Periode. Die Achse der Hauptbahn hingehen behauptet stets unveränderlich die gleiche Richtung innerhalb des Himmelsgewölbes nach jenen sogenannten Polen der Ekliptik hin. Die Bewegung der Abweichung in ihrer Zusammenwirkung mit der jährlichen Fortbewegung würde die Pole der täglichen Umdrehung immer in derselben Himmelsgegend festhalten, wenn die Perioden beider genau dieselben wären. Nun hat man aber durch Beobachtungen, die sich über lange Zeiträume erstrecken, herausgefunden, daß diese Stellung der Erde[4] bezüglich des Sternhimmels veränderlich ist; es sind daher gar manche der Ansicht, der Sternenhimmel selbst führe nach einem noch wenig bekannten Gesetze verschiedende Eigenbewegungen aus.[5] Die Beweglichkeit


  1. Rev. l. 1. c. 11. – Coppernicus suchte durch Einführung dieser dritten Erdbewegung den anscheinend dauernden Parallelismus der Erdachse zu erklären. A. a. O. 119 haben wir uns weiter über diese geistreiche Erklärung verbreitet; ebenso in einem Artikel der „Stimmen aus Maria Laach“ [L. II. 1897, 361 ff.]
  2. Mit anderen Worten: Die Drehungsachse der Erde ist nicht der Achse der Ekliptik parallel.
  3. revolutiones compares cum orbe magno;“ man sollte erwarten in orbe magno. Bedenkt man jedoch, daß es bei der Bewegung eines materiellen Punktes auf einer Kreislinie auf dasselbe hinausläuft, ob wir die ganze Linie mit dem auf ihr festgedachten Punkte, oder auf der festgedachten Linie den beweglichen Punkt kreisen lassen, so schwindet alle Schwierigkeit. Coppernicus dachte gewiß nicht an bewegliche materielle Kreise; doch trägt er an manchen Stellen dieser an und für sich gleichgültigen Ausdrucksweise der Alten Rechnung.
  4. D. h. der Erdachse.
  5. Hiermit werden die Motus octavae sphaerae angedeutet. Vgl. M. C. 79.
Empfohlene Zitierweise:
Nicolaus Copernicus, Adolf Müller (Übersetzer): Nicolai Coppernici de hypothesibus motuum coelestium a se constitutis commentariolus. J. A. Wichert, Braunsberg 1899, Seite 367. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Commentariolus_1899_German_Translation_Adolf_M%C3%BCller.djvu/9&oldid=- (Version vom 31.7.2018)