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Johann Christian August Clarus: Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck [1821].
In: Georg Büchner, Sämtliche Werke und Briefe (Hamburger Ausgabe), Hrsg. von Werner R. Lehmann, 1. Band: Dichtungen und Übersetzungen mit Dokumentationen zur Stoffgeschichte, Hamburg 1967.

Da mit der Untersuchung, ob der Inquisit bei seiner That aus einem gebundenen Vorsatze oder aus einem individuellen Antriebe gehandelt habe (siehe oben), die nähere Betrachtung seines Gemüthszustandes unmittelbar vor, bei und nach der That aufs genaueste zusammenhängt, so habe ich es für zweckmäßig erachtet, selbige bis hieher zu versparen, um mit möglichster Evidenz alle dahin gehörende Umstände zusammen zu fassen, und die obigen Erörterungen dabei voraussetzen zu können. Es erhellt nämlich aus Woyzecks Erzählungen und den Zeugenaussagen:

d) daß in ihm, nachdem er schon früher zuweilen von der Woostin zum Besten gehalten worden, ungefähr ein halbes Jahr vor der Mordthat eine lebhafte Eifersucht über ihren Umgang mit Andern erwacht ist, daß ihn diese im hohen Grade beunruhigt und verschiedene Male zu Mißhandlungen gegen sie verleitet hat, daß ferner dieses Gefühl durch der Woostin unbeständiges und sich widersprechendes Betragen gegen ihn, da sie ihm bald den vertraulichsten Umgang verstattet, bald mit ihm zu gehen sich geweigert und dafür in Gesellschaft eines Nebenbuhlers öffentliche Oerter besucht hat, immer unausstehlicher geworden ist, ihn zu mancherlei Versuchen, Zusammenkünfte mit ihr zu halten, und ihre Schritte und Tritte zu belauern, veranlaßt, und endlich den Gedanken sie zu ermorden, in flüchtigen Augenblicken und unter Widerstrebungen seines Gewissens, vor seine Seele geführt habe; daß endlich am Tage der Mordthat selbst die Vorstellung, daß ihn die Woostin durch eine falsche Bestellung zum Besten habe, ihn wegen seiner Armuth und immer tiefern Versinkens ins Elend verachte und einen andern vorziehe, sich seines ganzen Wesens bemeistert, ihn nach unruhigem und zwecklosen Umherlaufen zu Abholung des Mordinstrumentes und zu Bestellung eines Griffes an selbiges bewogen, und ihn, so ausgerüstet zur That, der Woostin auf ihrer Rückkehr von der geargwohnten und durch ihr Benehmen bestätigten Zusammenkunft mit dem Nebenbuhler in den Weg geführt habe. Uebrigens ist zu bemerken, daß die Periode, wo Woyzeck am meisten von Blutwallungen und fremden Stimmen beunruhigt worden zu seyn vorgibt, nämlich die Zeit seines Aufenthaltes bei dem Zeitungsträger Haase, damals längst vorüber war, daß sich seine Beunruhigungen in den acht Tagen vor der That, wo er herbergslos herumgelaufen ist, keine sitzende Beschäftigung gehabt und weniger Brantwein getrunken hat, eher vermindert, als vermehrt haben, und daß er an dem Tage der Mordthat selbst weder Herzklopfen und ähnliche Zufalle gehabt, noch Stimmen gehört hat. Es läßt sich daher in dem Gemüthszustande des Inquisiten vor der That weder überhaupt eine Spur von Geistesstörung (siehe oben), noch insbesondere die Wirkung eines instinktartigen, individuellen, in den eigenthümlichen körperlichen Leiden oder phantastischen Einbildungen des Inquisiten begründeten Antriebes, oder eines durch diese Eigentümlichkeiten gebundenen Vorsatzes

Empfohlene Zitierweise:
Johann Christian August Clarus: Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck [1821]. In: Georg Büchner, Sämtliche Werke und Briefe (Hamburger Ausgabe), Hrsg. von Werner R. Lehmann, 1. Band: Dichtungen und Übersetzungen mit Dokumentationen zur Stoffgeschichte. Hamburg: Wegner, 1967, Seite 532. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Clarus-Gutachten_532.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)