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an, in welcher die christliche Kunst ihrer Vollendung entgegenging. Die Sibyllen erhielten erst ihre grosse Bedeutung für die Kunst, als sie die symmetrische Ergänzung der alten Propheten wurden. Dazu gehörte aber schon eine grossartige Gesammtanschauung der christlichen Symbolik vom künstlerischen Standpunkt aus.

In folgender Symmetrie stehen sich zu Loretto die Statuen der Propheten und Sibyllen von della Porta gegenüber, und zwar:

  1) gegen Norden:

Jesaias — die Sibylla Hellespontica,
Daniel — die Sibylla Phrygia,
Amos — die Sibylla Tiburtina;

  2) gegen Westen:

Jeremias — die Sibylla Libyca,
Ezechiel — die Sibylla Delphica;

  3) gegen Süden:

Malachias — die Sibylla Persica,
David — die Sibylla Cumana,
Zacharias — die Sibylla Erythräa;

  4) gegen Osten:

Moses — die Sibylla Samia;
Balaam — die Sibylla Kimmeria.

Die Auswahl ist ziemlich willkührlich.

Die grossartigste Zusammenstellung der Sibyllen mit den Propheten findet sich an der Decke der sixtinischen Kapelle in den berühmten Fresken von Raphael. Beide erscheinen hier colossal.

Michel Angelo gab ihnen eine übermenschliche Hoheit, aber mit abstossender Strenge; Raphael machte sie dagegen zu Idealen der Schönheit und Anmuth. Das Rechte dürfte in der Mitte liegen. Michel Angelo bildete sie zu wild aufgeregt; dieser gar zu wenig aufgeregt. Ihr Antlitz muss stets Geist strahlen; aber mehr den empfangenen als den eigenen Geist; und ihre Seele muss in einer freudigen und schönen

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Wolfgang Menzel: Christliche Symbolik. Zweiter Theil. G. Joseph Manz, Regensburg 1854, Seite 374. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Christliche_Symbolik_(Menzel)_II_374.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2023)