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Kleid und dem Rosenkranz, der vielleicht den Kranz der Colonieen am Mittelmeer bedeutet, und mit der zerbrochenen Kette, charakterisirt die See- und Handelsmacht der Phöniker und die erste abendländische Cultur. Die delphische dann den Apollocultus und alle geistigen Blüthen des Hellenenthums. Die kimmerische in ihrem Blumenkranz und wallenden Haar (Sinnbilder der Jungfräulichkeit) und mit dem Lorbeerzweig des Ruhmes die noch rohen, aber sittenreinen Heldenvölker des Nordens. Die erythräische mit den Attributen des Elends, auf die Weltkugel tretend, bedeutet vielleicht die Verderbniss der römischen Kaiserzeit, und die samische mit blossem Schwert die Greuelkämpfe der Völkerwanderung. Darum folgt ihr als siebente die cumanische, die auf den Erlöser vom eisernen Zeitalter und Wiederbringer des goldnen hinweist. Hierauf die wunderbare Erscheinung der hellespontischen Sibylle bald im Königs-, bald im Bauernkleide, aber mit dem Rosenzweige, vielleicht vorbedeutend die constantinische Zeit, in welcher Byzanz den Purpur bezeichnet, die bäuerische Tracht aber die deutschen Völker, die sich zum Christenthum bekehrten. Die phrygische Sibylle mit der Fahne entspräche sofort dem bekanntlich von Phrygien hergeleiteten jungen Reich der Franken, und die tiburtinische dem durch Karl den Grossen neuverjüngten Reich der Römer, d. h. dem Reich Christi in Rom. Die drei letzten Sibyllen aber würden folgerecht, die europäische die nunmehr gesicherte Herrschaft des Christenthums in Europa, die schwarze Agrippina die noch zu bekehrenden Welttheile voll farbiger Menschen, und Nichaula endlich, die sabäische Königin, die zuerst dem Vorbild Christi in Salomon nahe trat, alle heidnische Weisheit der mosaischen vermittelnd, würde auf die dereinstige geistige Vermählung aller Völker in Christo hinweisen. Somit wäre ein welthistorischer Cyclus in den Sibyllen angedeutet, aber auch nur angedeutet.

Aeltere christliche Bilder, welche eine Sibylle darstellten, sind nirgends aufgefunden worden. Die ganze Vorstellung ist späteren Ursprungs und gehört eigentlich erst der Zeit

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Wolfgang Menzel: Christliche Symbolik. Zweiter Theil. G. Joseph Manz, Regensburg 1854, Seite 373. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Christliche_Symbolik_(Menzel)_II_373.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2023)