Seite:Christliche Symbolik (Menzel) II 280.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Nach Herders Dichtungen aus der morgenländischen Sage kommt die rothe Färbung der Rose von dem ersten Blut her, das auf Erden vergossen wurde: „Tief in der Mitternacht vor jenem Frühlingsfeste, an welchem die ersten Zwillingssöhne des Menschengeschlechts dem Schöpfer ein Dankopfer bringen sollten, sah ihre Mutter im Schlaf einen wunderbaren Traum. Die weissen Rosen, die ihr jüngerer Sohn um seinen Altar gepflanzt, waren in blutige vollere verwandelt, die sie noch nie gesehen. Sie wollte die Rose brechen, aber sie zerfiel vor ihrer Hand. Auf dem Altar, auf welchem sonst nur Milch geopfert ward, lag jetzt ein blutiges Lamm. Weinende Stimmen erhuben sich ringsum, und eine Stimme der Verzweiflung war in ihnen, bis Alles sich zuletzt in süsse Töne verlor, in Töne, die sie noch nie gehört hatte. Und eine schöne Aue lag vor ihr, schöner als selbst ihr Jugendparadies; und auf ihr weidete in ihres Sohnes Gestalt ein weiss gekleideter Schäfer. Die rothen Rosen waren um sein Haar, und in der Hand hielt er ein Saitenspiel, aus welchem jene süssen Töne kamen. Er kehrte liebreich sich zu ihr, er wollte ihr nahen und verschwand. Der Traum verschwand mit ihm. Erwachend sah die Mutter des Tages Morgenröthe wie blutig aufgehen und ging mit schwerem Herzen zum Opferfest. Die Brüder brachten ihr Opfer, die Eltern gingen heim. Am Abend aber kam der jüngere nicht wieder. Angstvoll suchte die Mutter ihn, und fand nur seine zerstreute traurige Heerde. Er selbst lag blutig am Altar: die Rosen waren mit seinem Blute gefärbt, und Kains Aechzen schallte laut aus einer nahen Höhle. Ohnmächtig sank sie auf des Sohnes Leichnam , als ihr zum zweitenmal das Traumgesicht erschien. Ihr Sohn war jener Schäfer, den sie dort im neuen Paradiese sah, die rothen Rosen waren um sein Haar; liebliche Töne klangen aus seiner Harfe; also sang er ihr zu: »Schaue hinauf gen Himmel zu den Sternen: weinende Mutter, schaue hinauf. Sieh jenen glänzenden Wagen dort! er fährt zu anderen Auen, zu schöneren Paradiesen, als du in Eden sahst; wo die blutgefärbte Rose der Unschuld voller blüht, und alle

Empfohlene Zitierweise:
Wolfgang Menzel: Christliche Symbolik. Zweiter Theil. G. Joseph Manz, Regensburg 1854, Seite 280. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Christliche_Symbolik_(Menzel)_II_280.jpg&oldid=- (Version vom 24.12.2022)