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Auf einem Glasgemälde des 13ten Jahrhunderts betet die Seele Maria’s, in Kindesgestalt auf den Armen des göttlichen Sohnes getragen, noch zum Abschied den schönen, todt vor ihr ausgestreckten jungfräulichen Leib an, mit dem Ausdruck des Erstaunens, sich getrennt von ihm zu sehen. Didron, annales III. 170. Auf Miniaturen in Paris kommt die Seele auch als eine Büste vor, die über die Leiche emporsteigt. Vgl. Waagen, Paris S. 276, 277, 286.

Auf den ältesten Bildern der Kirche ist der allzu schmerzhafte Ausdruck Maria’s eben so vermieden, wie der allzu freudige oder lächelnd huldvolle. Diese schärferen Markirungen eines einseitigen, den andern ausschliessenden Ausdruckes kamen erst später auf, indem sich der alte Typus der Marienbilder zugleich mehr individualisirte und mannigfache Physiognomien annahm. Dasselbe gilt in Bezug auf das Alter. Die frühesten Bilder hielten die unbestimmte Mitte zwischen Ernst und Freundlichkeit, zwischen göttlicher Hoheit und gemeiner Menschlichkeit, zwischen Jungfräulichkeit und Mütterlichkeit, zwischen Jugend und Alter. Die späteren dagegen gingen in die Extreme auseinander, so dass zuletzt die grössten Verschiedenheiten einander gegenüberstanden, eine fast verführerische Lieblichkeit gegenüber dem hässlichsten Schmerzausdruck im Gesicht einer alten Frau.

Vergleicht man den schönen und heiligen Typus der ältesten Marienbilder in den Katakomben, Mosaiken und Miniaturen, so muss man bekennen, derselbe lasse eine künstlerische Durch- und Ausbildung zu, die, ohne ihm etwas von seiner Heiligkeit und von seinem bestimmten typischen Charakter zu nehmen, allen Erfordernissen der Kunst genügen können. Darum ist es ein Irrthum, das Verlassen jenes ehrwürdigen alten Typus und die Individualisirung der Marienbilder seit dem 15ten, noch mehr seit dem 16ten Jahrhundert als einen grossen Fortschritt der Kunst zu preisen. Nur dadurch, dass die meisten Maler jenen alten Typus doch wenigstens nicht ganz aufgaben, sondern sich demselben immer wieder annäherten, hat sich überhaupt der Begriff eines kirchlichen

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Wolfgang Menzel: Christliche Symbolik. Zweiter Theil. G. Joseph Manz, Regensburg 1854, Seite 101. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Christliche_Symbolik_(Menzel)_II_101.jpg&oldid=- (Version vom 22.11.2022)