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besessen. Er schuf vom Kleinen zum Grossen. Wo er glücklich war, hat er es zu einem Mikrokosmus gebracht, nie zu mehr, aber auch dieses Kleinweltliche kann köstlich sein. In England erreichte er eine seltene Höhe. Die Legende will bekanntlich, dass Monet und Pissarro bei ihrem zehnmonatlichen Aufenthalt in London, 1871, plötzlich malen lernten und die Geschicke der europäischen Kunst dadurch sicherten, dass sie hier bei Turner und Constable auf den Gedanken kamen, nur noch die Farben des Regenbogens zu verwenden. Daran ist kaum ein wahres Wort. Monet und Pissarro waren eminente Maler, als sie nach London kamen und beide reagierten unter den neuen Einflüssen, aber nicht mit der Geschwindigkeit, dass man etwa sagen könnte, sie seien aus London als neue Menschen heimgekehrt. Und, was immer bisher übersehen wurde, sie reagierten durchaus nicht gleichartig. Nur Monet wusste schon frühzeitig aus Turner Vorteil zu gewinnen. Die Tuileries im Caillebottesaal des Luxembourg (1875) und ähnliche Werke zeigten deutlich den Einfluss, und Monet hat ungefähr von dieser Zeit an konsequent das Turnerhafte seiner Malerei entwickelt bis zu den nur aus farbiger Atmosphäre bestehenden Gemälden, die er heute malt. Ganz anders verhielt sich Pissarro. Er blieb von Turner so gut wie unberührt, aber erschloss sich um so eifriger dem zweiten grossen Landschafter Englands, seinem Grössten: Constable. Hier fand Pissarro die logische Folge seiner Corot-Periode. Kurz vor der Reise waren in Louveciennes die Landschaften entstanden, von denen heute Henri Rouart die schönsten besitzt, die ganz in Duft gehüllten Landstrassen, die Felder und Wiesen von grösster Feinheit des Tons. Diese Tonkunst organisierte Pissarro in London, viel weniger seine Palette. Die „Environs de Londres“ bei den Bernheims, das köstliche Bild „Route du Coeur-Volant“, das jetzt gerade in Luxembourg ausgestellt war (Sammlung Viau), schliessen sich ganz der Serie von Louveciennes an. Die Ansicht von Sydenham mit der Equipage und den Spaziergängern auf der breiten in das Bild hineinlaufenden Chaussée (Durand Ruel) ist die unmittelbare Folge der „Diligence“ bei Moreau Nélaton (1870). Pissarro lernte an Constable eine straffere Fleckenverteilung, die Kunst, die Menschen in die Landschaft zu setzen, die Pläne deutlich zu gliedern und trotzdem ganz intim zu sein. Nicht die Palette, sondern die Komposition reinigte, vereinfachte er in London. Es mag sein, dass er sich dort das absolute Schwarz abgewöhnt hat, das übrigens in den früheren Bildern auch keine entscheidende Rolle spielt; jedenfalls aber ist in den ersten Jahren nach London von reinen Farben keine Rede. Die Bilder sind noch ganz stumpf im Ton, duffig, wenn das Wort erlaubt ist, gewissen Constables an Intimität ähnlich, aber ohne das feine Glitzerwerk des Engländers, und nicht so stramm zusammengehalten. Die „Coteaux du Vésinet“ der Sammlung Blot (die Weide mit den Hügeln im Hintergrunde), die Seine bei Port Marly in der Sammlung Stumpf, wie alle hier erwähnten Bilder aus dem Jahre 1871, vermutlich nach der Rückkehr, jedenfalls unter Constables Einfluss entstanden, ebenso das köstliche Lavoir des Caillebottesaals (der Bach mit den Wäscherinnen aus dem Jahre 1872) u. v. a. sind wesentlich unreiner in das Palette als sehr viele Bilder der vorhergehenden Zeit. Dr. Gachet in Auvers besitzt eine schöne Landschaft aus dieser Periode, – sie fehlte leider auf der Ausstellung bei Durand Ruel – die wie Gobelin wirkt.

Der Unterschied zwischen Constable und dem Pissarro von 1871 ist Corot. Eine Landschaft Constables und eine Landschaft Corots ähneln sich im besten Falle wie eine vlämische und eine italienische Kreuzigung desselben Jahrgangs. Es sind ganz verschiedene Schönheiten, die man aus Notbehelf etwa mit hart und weich bezeichnen kann. Constable zerstiebte sein kristallenes Material in winzige Teilchen wie Diamantensplitter und bildete damit seine nordische Atmosphäre. Corot malt mit Schleiern; der Grad von Konsistenz, den er braucht, kommt von van der Meer; er ist immer breit, immer Fleisch, inniges, untrennbares Gewebe. Wenn man in der höchst komplizierten Entwicklung Pissarros eine Hauptrichtung konstatieren will, so ist es der Uebergang von diesem Weichen, wie es Corot hatte, zu dem Harten, wie es bei Constable gemeint ist. Aber dieser Uebergang vollzog sich nicht in London. In London ist Pissarro ein Corot unter englischem Himmel. Selbst viel später, z. B. in den Gärten von Pontoise (bei Rosenberg), in dem merkwürdigen Bilde mit den Feldern (bei Degas) und den zahlreichen Landschaften bei Faure aus 73 und 74 sucht er immer noch Corot und bemüht sich, den immer stärker bewegten Flächen den Duft des ersten Vorbildes zu erhalten.

Diese Schilderung des englischen Einflusses auf Pissarro bedarf einer Modifikation, um nicht einem in Deutschland wenig bekannten Künstler die wohlverdiente Stellung in der Geschichte des Impressionismus

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Julius Meier-Graefe: Camille Pissarro. Cassirer, Berlin 1904, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Camille_Pissarro_(Julius_Meier-Graefe).pdf/7&oldid=- (Version vom 31.7.2018)