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Nach Mirbeau, dem Freunde des Verstorbenen, der die Vorrede für den Katalog der grossen Ausstellung schrieb, die vor kurzem viele Werke Pissarros bei Durand Ruel vereinte, sollte man es glauben. Er nennt ihn einen der grössten Maler dieses Jahrhunderts und aller Jahrhunderte. Die Zeit Pissarros ist an sehr grossen Malern reich und kann sich mit allen Zeiten, soweit überhaupt verglichen werden kann, an Intensität besonderer Werte messen. Aber nur das Einzelne entscheidet diesen hohen Titel, einzelne Persönlichkeiten ragen gewaltig über unsere Tage hinaus und kommen den Grossen früherer Zeiten näher. Nicht die Epoche ist gross an Kunst, sie ist die kleinste von allen; die Masse, die um die Grossen lagert, ist Gemüsekunst, brave Hausmannskost, nichts weniger als geeignet, auf die Nachwelt zu kommen. Der Enthusiasmus, der den Grossen gebührt, bedarf so grosser Kraft, dass wir nicht unökonomisch damit verfahren und nicht jeden gleich zu den Unsterblichen rechnen dürfen, der mit ihnen ging und ihrer Gesinnung war. Ist Pissarro Führer oder geht er im Gefolge? Bleibt er bei dem Vergleich mit seinen grossen Freunden auf ihrer Höhe? – An Stil hat es ihm nicht gefehlt. Stil in dem Sinne besonderen Mittels. Die Ausstellung bei Durand Ruel brachte, trotzdem sie glänzend gewählt war, nicht alle Seiten des Vielseitigen zur Geltung. Ganz fehlte das erste Dezennium seines Schaffens, die Zeit bis 1864. Es ist nur noch sehr wenig davon erhalten. Die meisten Werke sind während der Belagerung von Paris, die den Künstler in Louveciennes, einem Vorort ausserhalb der Befestigungen, überraschte, zu Grunde gegangen. Lecomte machte in seiner Biographie in den Hommes d’Aujourd’hui (Band VIII. Vanier, 1896) die Prussiens dafür verantwortlich. Duret spricht in seinem kürzlich erschienenen Aufsatz der Gazette des Beaux Arts (Mai) von 2–300 verlorenen, wahrscheinlich zerstörten Bildern.

Immerhin zeigte die Ausstellung von mehr als 170 Werken annähernd die wesentlichen Phasen dieses reichen Schaffens. Ein ungemein bewegtes Leben kam zum Vorschein, die Arbeit eines bis zum Ende rastlos Thätigen, der auf allen Wegen versucht hat, zum grössten Ausdruck seiner Art zu gelangen, und sicher Alles gab, was er hatte. Ein höchst sympathisches Dasein. Man sah den rüstigen Alten mit den blitzenden Augen vor sich, den klugen Menschen, die grosse Ehrlichkeit und das gute, grundgütige, harmlose Kind, das immer jung und naiv blieb. Das Werk passt zu ihm. Es giebt kein Bild von Pissarro, das nicht mit Recht seine Signatur trüge. Jedes erkennt man sofort für sein Werk. Nichts ist thörichter als ihm mangelnde Persönlichkeit vorzuwerfen, wie es Mauclair in seinem Buch gethan hat. Persönlich in dem Sinne, dass man leicht dahin gelangt, ihn nicht mit Anderen zu verwechseln, war er allemal. Aber das heisst ungemein wenig. Auch diese billige Methode, künstlerische Werke nach dem Grade ihrer Einseitigkeit zu schätzen, ist schon recht langweiliges Gemüse geworden.

Pissarro wurde am 10. Juli 1830 in St. Thomas, einer dänischen Kolonie der Antillen geboren. Er ist Mischblut wie so viele der grossen Franzosen seiner Generation. Seine Mutter soll Creolin gewesen sein wie die seines grossen Schülers Gauguin; sein Vater Franzose; die Familie des Vaters jüdisch-portugiesischer Abstammung. Mit ungefähr zehn Jahren kam er nach Frankreich, wo er zum Kaufmann ausgebildet werden sollte. Georges Lecomte berichtete in der erwähnten Biographie, dass der Pensionsvater Pissarros, ein Matthieu Savary in Passy, Zeichner seines Standes und Freund der Musen, den Knaben in seiner Leidenschaft, nach der Natur zu zeichnen, ermutigte und ihm die einzige Anleitung zum künstlerischen Beruf gab. Andere Lehrer hat Pissarro nie gehabt. Dann in dem entscheidenden Moment, wo ihm ein Meister notgethan hätte, nötigte ihn der Vater, den Aufenthalt in Frankreich abzubrechen. Mit siebzehn Jahren kehrt er zu den Eltern nach den Antillen zurück und soll nun ernsthaft Kaufmann werden. Fünf Jahre verliert er als Handlungsgehilfe. 1852 nimmt ihn der dänische Maler Fritz Melbye, der Bruder des bekannten Marinemalers, mit nach Caracas in Venezuela. 1855 kommt er, fünfundzwanzig Jahre alt, nach Paris zurück. Damals war Manet noch bei Couture. Pissarro ist der Aelteste der berühmten Plejade, drei Jahre älter als der Maler des Dejeuner, vier Jahre älter als Degas. Renoir, Sisley, Monet, Cézanne sind ungefähr gleichaltrig und zehn Jahre jünger als Pissarro. Dieser hat also die ganze Bewegung an erster Stelle mitgemacht, ja ist ursprünglich den anderen weit voraus gewesen. Er hatte schon ein festes Verhältnis zu den beiden grössten Matadoren der Zeit, als die anderen noch auf der Schule waren. Die enge Anlehnung der Generation von 1870 an die 1830er ist in seinem Werke am deutlichsten.

Zwei Künstler begeisterten damals die Jugend: Corot, der Dichterfürst unter den Alten, Courbet, der grosse Revolutionär, das grösste Versprechen

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Julius Meier-Graefe: Camille Pissarro. Cassirer, Berlin 1904, Seite 2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Camille_Pissarro_(Julius_Meier-Graefe).pdf/2&oldid=- (Version vom 31.7.2018)