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Wilhelm Busch: Ut ôler Welt. Volksmärchen, Sagen, Volkslieder und Reime

ihrem Garten spazieren gingen, so kam ein alter Mann vorbei, der redete sie an und sprach: »Wißt ihr, was euch zu eurem Glücke noch fehlt?« »Nein!« sprachen die Kinder; »was sollte uns noch fehlen; wir haben es ja hier so gut.« Da sprach der alte Mann: »Drei Dinge fehlen euch noch:

Der Vogel der Wahrheit,
Das Wasser des Lebens
Und der Apfel Sina;

die sind es, die euch noch fehlen, daß ihr ganz glücklich seid, und zu finden sind sie auf einem hohen Berge; wenn da einer hinaufkommt, so fängt es an zu donnern und zu blitzen und die Erde bebt, und wenn der, welcher die drei Dinge holen will, sich umsieht, so wird er in einen Stein verwandelt.«

Da hub der älteste Knabe an und sprach: »Nun habe ich nicht her weder Ruhe noch Rast, bis ich den Vogel der Wahrheit, das Wasser des Lebens und den Apfel Sina gefunden und erlangt habe. Hier in diesen Baum stoß ich mein Messer, wenn das rostig wird, so bin ich todt und komme nie mehr zurück.« Damit nahm er Abschied von Bruder und Schwester, stieß sein Messer in den Baum und zog fort in die weite Welt hinein.

Lange Zeit warteten die Kinder, daß ihr Bruder wiederkomme, aber er kam und kam nicht, und als sie nach dem Messer sahen, so war es rostig geworden und da konnten sie sich wohl denken, daß ihr Bruder in einen Stein verwandelt war. Da sprach der zweite Knabe: »Ich lasse meinen Bruder nicht im Stiche, es mag kommen wie es will.« Damit nahm er Abschied von seiner Schwester, stieß auch ein Messer in den Baum, daß sie daran erkennen könnte, ob er lebendig wäre oder todt und zog aus, seinen Bruder aufzusuchen.

Das Mädchen wartete lange Zeit vergeblich, daß ihr Bruder wiederkäme, aber er kam und kam nicht, und als sie einmal nach dem Messer sah, so war es auch rostig geworden, wie ihrem ältesten Bruder seins. Da fing sie bitterlich zu weinen an und sprach: »Nun sind doch meine beiden Brüder gewiß in Steine verwandelt; aber ich lasse sie nicht im Stich, es mag kommen wie es will,« und machte sich auf den Weg, ihre Brüder aufzusuchen.

Sie mußte erst viele Meilen gehn, bis sie endlich an den Berg kam, wo der Vogel der Wahrheit, das Wasser des Lebens und der Apfel Sina zu finden waren. Da faltete sie ihre Hände und betete erst, und da sie nun den Berg hinanstieg, fing es plötzlich an zu donnern und zu wetterleuchten und die Erde bebte, doch stieg sie getrost, ohne hinter sich zu schauen, bis zum Gipfel, wo der Baum stand mit dem Apfel Sina, und ein Brunnen floß, daraus das Wasser des Lebens quoll. Nachdem sie den Apfel gepflückt und von dem Wasser geschöpft hatte, wollte sie wieder fortgehen, da rief der Vogel der Wahrheit: »Vergiß meiner nicht! Vergiß meiner nicht!« Da nahm sie den Vogel auch mit sich, den sie beinahe ganz vergessen hätte.

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Wilhelm Busch: Ut ôler Welt. Volksmärchen, Sagen, Volkslieder und Reime. München: Lothar Joachim, 1910, Seite 62. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Busch_Ut_oler_Welt_062.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)