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sind seit dem 1. Februar 1871 vergangen, aber der tiefe Groll und die tiefe Trauer, welche die Tragödie jenes Tages mir eingeflößt – die kann keine Zeit – und lebte ich hundert Jahre – verwischen. Wenn auch in letzter Zeit die Tage immer häufiger sich einstellen, da ich, von den Begebenheiten der Gegenwart eingenommen, an das vergangene Unglück nicht denke, da ich sogar die Freude meiner Kinder so lebhaft mitempfinde, daß mich selber noch etwas wie Lebensfreude durchwallt, so vergeht doch keine Nacht – keine – in der mich mein Elend nicht erfaßte. Das ist etwas ganz eigentümliches, das ich schwer beschreiben kann, und das nur solche verstehen werden, welche ähnliches an sich erfahren haben. Es deutet wie auf ein Doppelleben der Seele. Wenn auch das eine Bewußtsein, im wachen Zustande, von den Dingen der Außenwelt so eingenommen sein kann, daß es zeitweilig vergißt, so gibt es in der Tiefe meiner Persönlichkeit noch ein zweites Bewußtsein, welches jene schreckliche Erinnerung immer mit dem gleichen treuen Schmerz bewahrt; und dieses Ich – wenn das andere eingeschlafen – macht sich dann geltend, rüttelt das andere gleichsam auf, um ihm sein Leid mitzuteilen. Allnächtlich – es dürfte immer um dieselbe Stunde sein – erwache ich mit einem unsäglichen Wehgefühl … Das Herz krampft sich zusammen und mir ist, als sollte ich bitter weinen, kläglich schluchzen. Das dauert so einige Sekunden, ohne daß das aufgeweckte Ich noch weiß, warum jenes andere unglückliche gar so unglücklich ist … Das nächste Stadium ist dann ein weltumfassendes Mitleid,

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Bertha von Suttner: Die Waffen nieder!. E. Pierson’s Verlag, Dresden/Leipzig 1899, Band 2, Seite 301. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bertha_von_Suttner_%E2%80%93_Die_Waffen_nieder!_(Band_2).djvu/306&oldid=- (Version vom 31.7.2018)