sondern weil sie mir, im Vergleich zu der in Österreich üblichen Redeweise, ein höheres Bildungsniveau zu bekunden schien; oder vielmehr, nicht nur schien, sondern in der That bekundete. Grammatikalische Verstöße, wie solche die Umgangssprache der besseren wiener Kreise verunstalten, kommen in der guten berliner Gesellschaft nicht vor. Die preußische Verwechselung des Dativ und Accusativ: „Gieb mich einen Federhut“ bleibt auf die unteren Klassen beschränkt, während die in Wien üblichen Kasus-Fehler: „Ohne Dir“ – „Mit die Kinder“ häufig genug in den ersten Salons gehört werden. „Gemütlich mögen wir immerhin unsere Sprache nennen und sie von den Ausländern auch so befunden werden lassen – eine Inferiorität stellt sie jedenfalls vor. Wenn man Menschenwert nach der Bildungsstufe mißt – und welchen richtigeren Maßstab gäb’ es wohl, als diesen? – so ist der Norddeutsche um ein Stückchen mehr Mensch, als der Süddeutsche – ein Ausspruch, der im Munde eines Preußen sehr „arrogant“ klänge, und aus der Feder einer Österreicherin sehr „unpatriotisch“ erscheinen mag; – aber wie selten gibt es eine ausgesprochene Wahrheit, die nicht irgendwo oder irgendwen verletzte …
Unser erster Besuch in Berlin – nachdem wir auf dem Friedhofe gewesen – galt der Schwester der Verstorbenen. Aus der Liebenswürdigkeit und geistigen Bedeutung dieser Frau konnte ich schließen, wie liebenswürdig und bedeutend Friedrichs Mutter gewesen sein mußte, wenn sie Frau Kornelie von Tessow glich.
Bertha von Suttner: Die Waffen nieder!. Dresden/Leipzig: E. Pierson’s Verlag, 1899, Band 1, Seite 170. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bertha_von_Suttner_%E2%80%93_Die_Waffen_nieder!_(Band_1).djvu/175&oldid=- (Version vom 31.7.2018)