Der Erwartete liebt mich – das bewies mir sein am Sterbelager der Mutter geschriebener Brief; er ist wiedergeliebt – das muß ihm das Röslein im Totenkranz verraten haben … Und nun kommen wir zusammen – ohne Zeugen – im Innersten bewegt – er trostbedürftig – ich vom Wunsche zu trösten durchdrungen: ich glaube, es wird gar nicht viel Worte geben … Thränen in unserer beiden Augen, zitternd vereinte Hände – und wir werden uns verstanden haben … Zwei liebende, zwei glückliche Menschen – ernsthaft, weihevoll, leidenschaftlich, andächtig glücklich – während in der Gesellschaft die Sache gleichgültig und trocken etwa so verkündet wird! „Wissen Sie schon? die Martha Dotzky hat sich mit Tilling verlobt – eine miserable Partie.“ … Es ist zwei Uhr und fünf Minuten – jetzt kann er jeden Augenblick eintreten. – Die Glocke … dieses Herzklopfen dieses Zittern, ich fühle, daß – –“
So weit war ich gekommen. Die letzte Zeile ist mit beinahe unleserlichen Buchstaben gekritzelt, ein Zeichen, daß „dieses Herzklopfen, dieses Zittern“ keine bloße rhetorische Figur war.
Voraussicht und Wirklichkeit deckten sich nicht. Tilling verhielt sich während seines halbstündigen Besuches ganz zurückhaltend und kalt. Er bat mich um Verzeihung für die Kühnheit, welche er gehabt, an mich zu schreiben; ich möge dieses Beiseitesetzen der Etikette der Unzurechnungsfähigkeit zu gute halten, welche einen Menschen in so schmerzlichen Augenblicken befallen kann. Dann erzählte er mir noch einiges von den letzten
Bertha von Suttner: Die Waffen nieder!. Dresden/Leipzig: E. Pierson’s Verlag, 1899, Band 1, Seite 136. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bertha_von_Suttner_%E2%80%93_Die_Waffen_nieder!_(Band_1).djvu/141&oldid=- (Version vom 31.7.2018)