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Und woher nun dieser Widerspruch zwischen den Ansichten des Hrn. O. und den meinen? Darauf muß ich mit schon an einer anderen Stelle von mir gesagten Worten antworten. Es ist nämlich ein großer Unterschied, ob ein zu einer selbstständigen, bedeutenden Leistung Befähigter, ob ein Anderer über ein gegebenes Werk urtheilt; was jener im Gefühle seiner Kraft für blos gut hält, betrachtet dieser schon als ungeheuer und unerreichbar, weil es dies für ihn selbst ist. Als ich über die Beethoven’sche Symphonie schrieb, hatte ich nicht meine Mittelkräfte, sondern meine höchsten als Vergleichungspuncte genommen; von diesem Standpuncte aus bin ich zu demjenigen Resultate gelangt, das ich in dem besprochenen Aufsatze niedergelegt. Wenn ich nun z. B. das Thema des Allegrosatzes nicht für so bewundernswerth halte, so kommt es daher, weil ich noch in keinem Augenblicke über eine solche Stelle erst besonders habe nachdenken müssen, und so mit dem Folgenden verhältnißmäßig fort. Das Hr. O. die Melodie in der B-Dur-Episode so sehr schön findet, kommt ganz aus demselben Grunde, weswegen darüber zu sprechen unnöthig. Mit einem kurzen offenen Worte: ich selbst getraue mir, eine solche Melodie hervorzubringen. Ich habe Ehrfurcht vor dem großen, herrlichen Meister (wie könnte denn das anders sein), aber keine Furcht; ich sehe in dieser Symphonie nicht, wie viele Andere, das Ende, das Ziel der Tonkunst; im Gegentheil, ich sehe in Vielem erst den Anfang, der freilich aber auf ganz andere und abweichende Art fortzuführen. Genug nun. Möge mein geehrter Gegenmann fortfahren in seinen Bemerkungen zu meinem Aufsatze, in dem rühmlichen Kampfe für Alles über das Gewöhnliche Erhabene. Ich werde theilnehmend lesen, aber Nichts mehr erwiedern; die Zukunft besiegele meine Antwort mit der That. *)[1]

Berlin.   Herrmann Hirschbach.





  1. *) Anm. d. Red. [Robert Schumann] – Wir stellen Hrn. O. in Hamburg ganz anheim, mit seinen Bemerkungen über den Aufsatz des Hrn Hirschbach fortzufahren und wünschen es sogar. Solcher Austausch kann nur fördern. Unser Urtheil über die Symphonie selbst steht seit lange fest (Vgl. Bd. II, S. 116[WS 1], Bd. VI, S. 146[WS 2]) und hat allerdings mehr vom Enthusiasmus des Hrn. O. Dies konnte aber kein Grund sein, einer wenn auch kälter ausgesprochenen Ansicht wie der Hirschbach’schen, den Weg zu vertreten, zumal wir in der Hauptsache, über die Größe des Werkes und seines Schöpfers wohl Alle übereinstimmen. –



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Robert Schumann: Fastnachtsrede von Florestan – Gehalten nach einer Aufführung der letzten Symphonie von Beethoven, in: Neue Zeitschrift für Musik, Band 2, Nr. 29, 10. April 1835, Seite 116-117
  2. Schumann äußerte:
    „Den Beschluß des diesjährigen Concertcyclus machte die neunte Symphonie von Beethoven. Das unerhört schnelle Tempo, in dem der erste Satz gespielt wurde nahm mir geradezu die ganze Entzückung, die man sonst von dieser überschwenglichen Musik zu erhalten gewohnt ist. Dem dirigirenden Meister gegenüber, der Beethoven kennt und verehrt, wie so leicht niemand wieder, mag dieser Ausspruch unbegreiflich erscheinen, und endlich, wer könnte hier entscheiden als Beethoven selbst, dem dies leidenschaftliche Treiben unter Voraussetzung eines makellosen Vortrages vielleicht gerade recht gewesen? So muß ich denn diese Erfahrung, wie so manche, zu meinen merkwürdigen musikalischen zählen, und mit einiger Trauer, wie schon alleine über die äußere Erscheinen des Höchsten ein Meinungszwiespalt entstehen kann. Wie sich aber freilich im Adagio alle Himmel aufthaten, Beethoven wie einen aufsteigenden Heiligen zu empfangen, da mochte man wohl alle Kleinigkeiten der Welt vergessen und eine Ahnung vom Jenseits die Nachblickenden durchschauern“,
    abschließender Absatz des Artikels Fragmente aus Leipzig II., in: Neue Zeitschrift für Musik, Band 6, Nr. 36, 5. Mai 1837, Seite 144-146