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     Das zweite, was den Aufbau der Vita Antonii bestimmt, ist der Gedanke, daß der Aufstieg zu dieser Höhe nur schrittweise und unter harter Anstrengung gelingt. Wenn Herzensreinheit so viel ist wie Ausrottung der bösen Triebe, so muß das Leben des Antonius ein ununterbrochener Kampf sein; ein Kampf, der naturgemäß beginnt mit dem Streit wider die Sinnlichkeit und sich steigert zum persönlichen Zusammenstoß mit dem Satan, als dem Urheber alles Bösen. Aber Athanasius schöpft aus seinem christlichen Glauben zugleich die Gewißheit, daß das Ringen sich nicht ziellos immer wieder erneuert. Es kommt einmal ein Augenblick, wo es dem rüstigen Kämpfer gelingt, den Feind zu Boden zu werfen. Ob einer aber so weit gelangt ist, muß sich daran erweisen, daß er Geistesgaben besitzt. Denn keiner kann den Teufel bestehen, wenn ihm Gott nicht das Auge öffnet für die unsichtbare Welt und ihm übernatürliche Kräfte verleiht. Darum sind auch an dieser Stelle Wundererzählungen unerläßlich. Sie sind nicht „Exkurse“ oder störende Einlagen, sondern sie dienen als Beleg dafür, daß der Betreffende jetzt den Sieg errungen und als „Freund Gottes“ die παρρησία bei ihm erlangt hat. Die späteren Viten pflegen den Leser auf diesen Sinn der Sache noch ausdrücklich hinzustoßen, wenn sie zu Anfang oder am Schluß solcher Wundergeschichten etwa die Formel gebrauchen: τεκμήριον τοῦτο οἵαν παρρησίαν εἶχεν ὅσιος παρὰ τῷ θεῷ. – Es gibt jedoch Stufen der παρρησία. Je weiter es einer innerlich bringt, desto mehr darf er von Gott erbitten. Darum kann Athanasius zweimal einen derartigen Höhepunkt im Leben des Antonius schildern.

     Die inneren Fortschritte, die Antonius während seines Ringens macht, entziehen sich naturgemäß der Beschreibung. Aber Athanasius hat doch ein Mittel gefunden, um sie dem Leser zur Anschauung zu bringen. Dadurch, daß er den Antonius räumlich stetig vorwärtsrücken läßt: vom Dorf ins Grab, von da in die Wüste, von da wieder in die tiefste Einsamkeit. Jeden dieser Schritte muß Antonius tun, wenn er ans Ziel gelangen will. So geben die Haltestellen des Wegs zugleich die Stufen der inneren Entwicklung an.


     Darnach möge nun der Leser entscheiden, ob Mertels Urteil zu Recht besteht, Athanasius habe es „infolge der vorwiegend erbaulichen Tendenz seiner Schrift nicht vermocht, ein klar gegliedertes Werk aus einem Guß zu schaffen“. Ich denke keinen allzuheftigen Widerspruch bei den Philologen hervorzurufen, wenn ich dem den Satz entgegenstelle: man muß im Altertum weit laufen, bis man eine Schrift findet, die sich an Strenge des Stils und an künstlerischer Geschlossenheit mit der Vita Antonii vergleichen ließe. Ein großer Gedanke ist von Anfang bis zu Ende durchgeführt, alles steht genau an der Stelle, an der es stehen muß, und kein überflüssiges Beiwerk stört die spannende Entwicklung[1].

     Ebenso wird aber jetzt ohne weiteres einleuchten, daß diese Art von Lebensbeschreibung mit Plutarch und mit peripatetischer Kunst der Charakterschilderung schlechterdings nichts zu schaffen hat. Für Mertel ist der Beweis der Abhängigkeit


  1. Vollends ungeheuerlich ist die Behauptung (Mertel S. 98): „eine Entwicklung wird nirgends gegeben“. Wo muß man nur seine Augen haben, um die immer und überall in den Viten geschilderte Entwicklung nicht zu sehen?
Empfohlene Zitierweise:
Karl Holl: Die schriftstellerische Form des griechischen Heiligenlebens. J. C. B. Mohr, Tübingen 1928, Seite 254. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Band_II_-_Der_Osten_(Holl)_254.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)