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Fenster, das er öffnete, und rief mit schwacher, sterbender Stimme herüber, indem er die Hände flehend empor hob, man möchte ihm doch, um der himmlischen Barmherzigkeit willen, ein Gefäß mit Wasser vor die Thüre stellen, damit er den brennenden, verzehrenden Durst löschen könne. Dieser rührenden Bitte vermochte Diether nicht zu widerstehen. Er füllte ein großes Gefäß mit frischem Wasser und stellte es vor die Thüre des Pestkranken, worauf er sich eiligen Schrittes wieder entfernte. Bald darauf sah er den Alten sich mühsam vor die Thüre schleppen und das Wasser zu sich in das Haus ziehen. Es war das letzte Mal, daß er ihn erblickte.

Voll Furcht und Angst musterte Diether, bevor er sich Abends zur Ruhe niederlegte, seine Hausgenossen, ob sich noch an Keinem die Spuren der entsetzlichen Krankheit zeigten. Aber obgleich sie Alle gesund und munter waren, so ließ ihn doch die Besorgniß für die kommenden Tage lange nicht einschlummern. Wie er nun so schlaflos im Bette lag und inbrünstig zur heiligen Jungfrau betete, ihn und die Seinigen vor der schrecklichen Seuche zu bewahren, da vernahm er auf einmal ein seltsames Tönen und Klingen. Bald kam es ihm wie ein leiser, lieblicher Gesang vor, bald wie fern verklingende Orgeltöne. Er lauschte lange den wunderbaren Lauten, die seine aufgeregte Seele besänftigten und ungemeine Beruhigung ihm einflößten, so daß bald ein erquickender Schlaf seine müden Augen schloß.

Der nächste Tag ging abermals glücklich vorüber, aber die Nacht darauf vernahm er wiederum das liebliche Klingen. Er stand auf und öffnete das Fenster. Ihn däuchte jetzt, als kämen die Töne aus der alten Eiche, die bei seinem Hause stand. Er weckte sogleich seinen ältesten Sohn und Beide gingen mit einer Leuchte hinaus, die Sache näher zu untersuchen. Diether hatte sich nicht getäuscht. Je näher sie dem alten Baume kamen, desto deutlicher hörten sie den wunderbaren Klang. Sie besahen den Baum von allen Seiten, aber nirgends war etwas Auffallendes daran zu bemerken. Es war nicht anders möglich: der Schall kam doch aus dem Stamme der Eiche. Sie hielten ihr Ohr an die rauhe harte Rinde, da drang das Getöne ganz nahe und laut hervor. Lange blieben sie lauschend stehen und wußten nicht, was sie davon denken oder was sie beginnen sollten.

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August Schnezler (Hrsg.): Badisches Sagen-Buch 2. Band. Kreuzbauer und Kasper, Karlsruhe 1846, Seite 240. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Badisches_Sagenbuch_II_240.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)