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genau erinnerte beim Einsteigen gehabt zu haben, und die jetzt wie in den Boden hinein verschwunden schien. Er kniete nieder und suchte – in der verweiflungsvollen Möglichkeit, daß sie unter die Füße gekommen sei, unter den Sitzen, griff hinter in die Polster, öffnete die Arbeitstasche seiner Frau und schien untröstlich über den Verlust. Er hörte dabei gar nicht wie es läutete und kam erst wieder mit der Außenwelt in Berührung, als er die vermißte endlich in der Cigarrentasche entdeckte, in die er sie in Gedanken, wie in ein Futteral, hineingeschoben hatte. Zu gleicher Zeit fuhr aber auch der Kleine in Nanking in das Coupé, das unmittelbar hinter ihm geschlossen wurde und draußen pfiff es.

„Wo ist denn Ihre Frau Gemahlin?“ sagte der Naumburger erstaunt.

„Herr Gott, meine Frau!“ rief der Professor, und stürzte an diesem vorbei nach dem Fenster, das der Dicke schon hartnäckig wieder aufgezogen hatte. – Der Zug setzte sich langsam in Bewegung, in zitternder Hast ließ der unglückliche Gatte das Fenster nieder und fuhr mit dem Kopfe hinaus.

Draußen war noch eine Thür geöffnet, der Schaffner stand dort und neben ihm die Frau Professorin, in athemloser Hast.

„Das ist nicht mein Coupé!“ rief sie.

„Steigen Sie nur hier ein,“ drängte der Schaffner.

„Elise!“ rief in diesem Augenblick der Gatte, und „dahinein gehör’ ich!“ antwortete jubelnd die Frau und flog auf dem Perron herunter, uns entgegen. – Aber hier war keine Thür mehr geöffnet und der Zug im Gang. Der Schaffner konnte nichts weiter thun, und „machen Sie auf! machen Sie auf!“ schrie die Frau draußen und griff krampfhaft nach dem Schloß. Die Thür öffnete sich aber natürlich nicht, da sie nach unten von dem eisernen Vorleger gehalten wurde, und dortstehende Bahnbeamte sprangen außerdem gleich dazwischen, denn die geängstigte Frau hätte sonst verunglücken können. An Einsteigen war gar kein Gedanke mehr.

„Da drinnen sitzt mein Mann! Ich muß mit!“ Das war das letzte, was wir von der Frau Professorin hörten, und der Professor, der den Kopf aus dem Wagen steckte und seine Frau mit den Augen suchte, bis der Zug unter den Festungstunnel schoß und er erschreckt zurückprallte, sank jetzt auf den Sitz am Fenster zurück und jammerte –

„Ja Du mein Gott, was soll jetzt werden!“

Der Kleine in Nanking tröstete ihn. Von der nächsten Station aus konnte er zurücktelegraphiren, daß ihm seine Frau mit dem bald nachkommenden Güterzug folge. Um fünf oder halb sechs waren sie dann immer

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Friedrich Gerstäcker: Auf der Eisenbahn. Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 112. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Auf_der_Eisenbahn-Gerstaecker-1865.djvu/6&oldid=- (Version vom 31.7.2018)