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wurden, daß die Soldaten und Baschi-Bozuks die Flüchtlinge bei diesen Transporten auf die brutalste Weise behandelten, antwortete er: „Laßt sie sterben!“ Umgekehrt wurden auch die Flüchtlinge aus den Städten wieder in die Dörfer zurückexpediert. Von Wan aus, wohin 30 000 Menschen aus dem Vilajet geflüchtet waren, wurden auf Veranlassung der Regierung 3000 wieder auf’s Land zurückgeschickt; aber alle Dörfer, in die sie heimgekehrt waren, wurden auf’s neue angegriffen und ausgeplündert, so daß ihnen alles, was von der Herbstplünderung noch zurückgeblieben war, abgenommen wurde. Der Kommissär der Pforte, auf dessen Versicherungen diese Leute zurückgeschickt wurden, drückte sein tiefes Bedauern über diesen unglücklichen Vorfall aus und schickte den Polizeichef sofort nach den nächsten Dörfern. Eine Abteilung von zehn Mann kam auf dem Schauplatz der Unruhen an, als die Kurden noch in Sicht waren, da es denselben nicht möglich war, sich bei dem schlechten Zustand der Wege mit den Heerden gestohlener Schafe schnell vorwärts zu bewegen. Die Gendarmerie feuerte einige Schüsse in die Luft und parlamentierte dann mit den Räubern, worauf diese unbehelligt weiterzogen und die Polizei in das geplünderte Dorf einkehrte. Dort ließen sie sich nieder, bis jedes übriggebliebene Huhn und alle andern noch vorrätigen Lebensmittel aufgezehrt waren.

In den Städten wurde unter das verhungerte Volk hie und da Brot verteilt, was allerdings selten mehr als einige Tage dauerte. In Sivas wurde sogar bekannt gemacht, daß die Regierung 4000 Kilo Saatkorn verteilen würde. Nach sorgfältiger Nachforschung ergab sich aber, daß nur in einem einzigen Dorf etwas Korn abgeliefert worden war und auch dort zu spät für die Saat.

Auch Unterstützungsgelder wurden hier und da durch die Zaptiehs den Dörfern überbracht. In einem Dorf bei Erzerum bestanden dieselben aus 2 Medjidies (7,20 Mk), wofür sich fünf berittene Soldaten, die diesen Betrag abzuliefern hatten, mit ihren Pferden zwölf Tage lang einquartierten und verköstigen ließen. In Arabkir ließ die Behörde an Witwen und Waisen Getreide für 14 Tage verteilen (pro Person 2 Oka, ca. 5 türk. Pfd.). Es war der ganze Rest, der von den verbrannten Vorräten übrig war. Aber auch diese Unterstützung wurde nur, und zwar unter der Bedingung der schändlichsten Zumutungen, den hübschesten unter den Witwen und jungen Mädchen zuteil. Auch

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 87. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/89&oldid=- (Version vom 31.7.2018)