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Wandlung unserer Orient-Politik eine Lanze zu brechen versucht und die Erfahrung machen muß, daß auch die stärkste an dem Panzer dieses Wortes zersplittern muß. Ist denn überhaupt schon davon die Rede, daß deutsches Blut an den Gestaden des Bosporus fließen muß? Zwischen höflichen diplomatischen Noten und einer Kriegserklärung ist wahrlich für die europäische Diplomatie wenn sie nur einen ernstlichen Willen besitzt, Spielraum genug, um bei der ohnmächtigen Hohen Pforte etwas durchzusetzen. Oder ist es eine würdige Sache, wenn eine christliche Großmacht auf die Nerven der Machthaber im Yidiz Kiosk eine so zärtliche Rücksicht nehmen zu müssen glaubt, daß sie das Wort Armenien im kaiserlichen Palast am liebsten überhaupt nicht mehr über die Lippen bringt? Da legt man doch wahrlich an die Nerven der Türken, die sich am goldenen Horn bequem auf ihren Divans ausstrecken und an die Nerven armenischer Christen, die ihnen von denselben Türken unter den ausgesuchtesten Qualen aus dem Leibe herausseciert werden, einen etwas verschiedenen Maßstab an.

Wenn, wie von maßgebender Seite versichert wurde, der deutschen Diplomatie in der Kampagne der letzten 10 Monate nur die eine Richtschnur vorgezeichnet war, „jede Berührung mit der armenischen Frage wie das höllische Feuer zu fliehen“, so wird ja freilich niemand verlangen, daß sich dieselben an dem einmal angezündeten Feuer die Finger hätte verbrennen sollen. Aber das ist die Frage, ob es nicht des mächtigsten Volkes auf dem Kontinent würdiger gewesen wäre, im Verein mit andern, das höllische Feuer zu löschen, statt nur darauf bedacht zu sein, auf gutem Fuße mit denen zu bleiben, die es angezündet. Ja, ein höllisches Feuer ist es in der That! und auch die deutsche Politik wird nicht unschuldig daran sein, wenn dasselbe binnen kurzem um sich fressen und die ganze Christenheit des Orients in seinen Flammen verzehren sollte. Es wird ja freilich dann immer noch Zeit sein, daß sich die Diplomaten am goldenen Horn auf eines der beiden Stationsschiffe retten, die sie so besorgt gewesen sind mit einem umfangreichen diplomatischen Notenwechsel sich zur Verfügung zu stellen.


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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 85. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/87&oldid=- (Version vom 31.7.2018)