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Sache nur das Eine nicht klar, warum man überhaupt noch einen Armenier am Leben gelassen habe. Infolgedessen hatte sich unter dem Volke eine merkwürdige Legende gebildet. Es wurde uns allen Ernstes erzählt, der deutsche Kaiser habe nach dem Ausbruch der Massacres an den Sultan geschrieben, es sei jetzt genug, er möge nun Einhalt gebieten, und daraufhin habe der Sultan befohlen, das Morden einzustellen.

Die Ueberzeugungen, welche ich aus der Reise gewonnen, veranlaßen mich, schon im Orient soviel als möglich Material über den Ursprung und Verlauf der Blutbäder zu sammeln, eine Arbeit, die ich nach meiner Heimkehr fortsetzte, um meine eigenen Anschauungen an möglichst zahlreichen Berichten von Augenzeugen zu prüfen. Ich bemerke, um jedem Mißtrauen zu begegnen – die zur Krankhaftigkeit ausgeartete Anglophobie unserer Presse nötigt, dies zu sagen – daß das in der Darstellung dieses Buches verarbeitete Material bis auf die beiden Berichte von G. H. Fitzmaurice (II) und E. I. Dillon (III) weder aus englischen noch auch, mit vereinzelten Ausnahmen, aus armenischen Quellen herrührt. Es leben in allen Landesteilen der Türkei Ausländer jeder Nationalität, – auch die Deutschen sind nicht unbeträchtlich vertreten – die als Augenzeugen des Geschehenen die zuverlässigsten Berichte geben konnten. Selbstverständlich sind auch die englischen Konsularberichte, die in den Blaubüchern (Turkey, Nr. 1 part I und II, September 1895, Turkey, Nr. 1 und 2, Februar 1896, Nr. 3, Mai 1896) jedermann zugänglich sind, eine reiche und zuverlässige Quelle der Belehrung über die Zustände in Armenien. Vor allem aber besitzen wir in dem Bericht der Botschafter der 6 Großmächte (Teil V dieser Schrift) über „die Ereignisse des Jahres 1893 in Kleinasien“, welcher mit einer Kollektiv-Note vom 4. Februar 1896 dem Sultan überreicht wurde, ein Dokument von unanfechtbarer Zuverlässigkeit. Dieser Bericht, welcher geeignet gewesen wäre, schon längst das öffentliche Urteil über Ursprung und Charakter

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 6. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/8&oldid=- (Version vom 31.7.2018)