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fast glauben, daß selbst der Himmel seinen ohnmächtigen Geschöpfen keinen besseren Schutz gewähren und den Stellvertretern seiner richterlichen Gewalt auf Erden getrost die Wahrung seiner Gerechtigkeit überlassen könnte.

Aber man sagt uns, daß, sintemalen zugestandenermaßen die Politik die treuloseste aller Künste ist, jene heiligen Verträge nichts anderes gewesen sind, als eine schöne moralische Kulisse, hinter der sich das politische Intriguenspiel der Mächte zu verbergen wünschte, und daß, Armenien hin, Armenien her, keiner der Unterzeichner des Berliner Vertrages ernstlich daran gedacht hat, auch nur einen Finger zu rühren, um die hübschen Versprechungen irgend wann einmal einzulösen oder die Pforte zur Ausführung ihrer Verpflichtungen anzuhalten. Ja der Versuch, der in dieser Richtung nach 17jährigem Nichtsthun im vergangenen Jahre von einer der Signatarmächte – aus welchen Motiven immer – unternommen wurde, den papierenen Verträgen zu einem wirklichen Dasein zu verhelfen, wird von ganz Europa als ein gröblicher diplomatischer Friedensbruch angeschrieen, und Entsetzen ergreift die civilisierte Welt über das „perfide“ England, welches, weil es ihm einmal so paßt, aufhören will. Papier für Papier und die Armenier unter türkischer Herrschaft für ein glückliches Volk zu halten.

Vielleicht aber, wird man einwenden, stand es gar nicht mehr so schlimm in Armenien, und die Mächte werden darum auf die Ausführung der Vertragsverpflichtungen verzichtet haben, weil durch die inzwischen eingetretene Besserung der Zustände die Einführung von Reformen sich als unnötig herausgestellt hatte. Nun die Mächte, die in der Lage sind, sich durch ihre Konsuln jede wünschenswerte Information über die Zustände in Armenien zu verschaffen und in der That, wie die Bände des diplomatischen Aktenmaterials beweisen, keinerlei Unkenntnis vorschützen können, mögen selbst das Urteil in dieser Sache sprechen. In den ersten Jahren nach dem Berliner Vertrag hielt man es noch für eine Sache des politischen Anstandes, die völlige Nichtachtung der auf Armenien bezüglichen Bestimmungen desselben vonseiten der Pforte wenigstens mit diplomatischen Noten zu rügen und sich den Anschein zu geben, als ob man wirklich auf die Durchführung der Reformen in den armenischen Provinzen einen Druck ausüben wolle.

Am 7. September 1880 wurde der Hohen Pforte von den Botschaftern der sechs Signatarmächte eine Kollektivnote überreicht. Darin ist folgendes zu lesen:

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 76. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/78&oldid=- (Version vom 31.7.2018)