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Die Hohe Pforte,“ so lautet der 61. Artikel des Berliner Vertrages, „übernimmt die Verpflichtung, ohne weiteren Verzug, die durch lokale Bedürfnisse in den von den Armeniern bewohnten Provinzen erforderten Verbesserungen und Reformen ins Werk zu setzen und den Armeniern Sicherheit vor Kurden und Tscherkessen zu garantieren. Sie wird die in dieser Richtung gethanen Schritte in bestimmten Zeitabschnitten den Mächten bekannt geben, die ihr Inkrafttreten überwachen werden.“ England hatte aber hieran noch nicht genug.

Der humane Ehrgeiz oder ein sonstiges Interesse spornte es an, noch während der Verhandlungen des Berliner Vertrages, allen anderen Mächten bei der Pforte den Rang abzulaufen und sich durch die sogenannte Cyprische Konvention einen besonderen Auftrag für die Beglückung Armeniens zu erwirken. Schon vor der Unterzeichnung derselben hatte Lord Salisbury in einer Depesche vom 30. Mai 1878 dem britischen Gesandten in Konstantinopel folgende Instruktion gegeben: „Garantieen, die erforderlich sind, um England ein Recht zu geben, auf befriedigende Maßregeln für diese (Reform-) Absichten zu dringen, werden ein unentbehrlicher Bestandteil jedes Uebereinkommens sein, zu dem die Regierung Ihrer Majestät ihre Zustimmung geben könnte.“ In Uebereinstimmung damit erhielt dann auch England, in der Cyprischen Konvention, für die der Türkei gewährte Garantie ihres asiatischen Besitzes, „von Sr. Kaiserlichen Majestät dem Sultan das Versprechen, notwendige Verwaltungs-Reformen, über die zwischen den beiden Mächten späterhin Vereinbarungen getroffen werden sollen, in der Regierung zum Schutz der christlichen und anderen Unterthanen der Pforte in diesen Gebieten einzuführen.

Der logische Zusammenhang, in welchen die englische Diplomatie mit diesen Abmachungen die Occupation von Cypern zu setzen wußte, ist aus dem Wortlaut des Vertrages, selbst mit dem größten Scharfsinn, nicht zu ermitteln. Wahrscheinlich aber hatte England eine so lebhafte Vorempfindung der bei der Pforte für das unglückliche Armenien von ihm durchzusetzenden Reformen, daß es nicht umhin konnte, sich schon im Voraus einen angemessenen Lohn dafür zu sichern.

Wenn sechs Großmächte mit heiligen Verträgen – die Hauptstadt des Deutschen Reiches war Zeuge dieses erhabenen Schauspiels – sich für das Glück eines geknechteten Volkes verbürgen, so möchte man

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 75. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/77&oldid=- (Version vom 31.7.2018)