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nicht vor allem die politische Geschichte dieses Jahrhunderts, daß ein so furchtbarer Schlag gegen die christlichen Unterthanen des Reiches die unmittelbare Intervention der auswärtigen Mächte, denen noch dazu Vertragsverpflichtungen in dieser Hinsicht oblagen, herbeiführen mußte? Hatte nicht das Blutbad von Chios, März 1822, in welchem 23 000 Griechen von dem hinterlistigen Ali Pascha abgeschlachtet wurden, den griechischen Freiheitskämpfern die begeisterte Sympathie Europas verschafft? Hatte nicht das Massacre im Libanon 1860, dem 6000 Christen zum Opfer fielen, die französische Expedition und die Autonomie des Libanondistriktes zur Folge gehabt? Führte nicht die Abschlachtung von 25 000 Bulgaren zum russisch-türkischen Krieg und zur Emanzipation der Balkan-Völker, und der Aufstand des Arabi Pascha in Aegypten zur Beschießung Alexandriens und zur Aufrichtung der englischen Herrschaft am Nil? Konnte denn die um die Aufrechterhaltung des osmanischen Reiches fast wie um ihr eigenes Leben besorgte europäische Diplomatie noch eine Stunde länger dem Sultan seinen Thron garantieren, wenn zu den chronisch gewordenen Unruhen in Makedonien, Arabien und Syrien ein solcher Paroxismus auch noch die bisher intakten Glieder des Reiches ergriff? Wie lange sollte noch die bewunderungswürdige Geduld europäischer Kabinette die Fieberphantasieen des im Delirium des Todes zuckenden kranken Mannes mit diplomatischen Noten beantworten und die an allen Gliedern aufbrechenden Pestbeulen mit den Pflastern ihrer papierenen Verträge verkleben? Doch wen Gott verderben will, den verblendet er zuvor.

Gleichwohl bedürfen auch die Handlungen eines Irren noch einer Art psychologischer Motivierung und daß der politische Wahnsinn, der die armenischen Massacres herbeiführte, Methode hatte, davon haben wir uns ja leider genugsam überzeugen können. Es fehlt uns aber noch das selbst für eine perverse Denkweise zureichende Motiv, welches die über Armenien verhängte Vernichtungsmaßregel erklärlich macht.

Als die ausländischen Konsuln zu Erzerum im vergangenen Jahre einen besonders schreienden Fall von Ungerechtigkeit zur Kenntnis des Vali brachten, sagte derselbe: Die türkische Regierung und das armenische Volk stehen in dem Verhältnis von Mann und Frau, und Dritte, die für die von ihrem Manne gezüchtigte Frau Mitleid fühlen, thun besser, sich in den ehelichen Zwist nicht einzumischen.

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 72. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/74&oldid=- (Version vom 31.7.2018)