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hin und her. Der Zeitpunkt des Ausbruchs hängt überall von der kürzeren oder längeren Frist ab, die die Vorbereitung in Anspruch nahm. Die Demonstration in Konstantinopel, die zu Ungunsten der Armenier ausgelegt werden konnte, gab einen guten Vorwand her und wurde von den türkischen Behörden im ganzen Lande weidlich aufgebauscht und ausgebeutet, um den muhammedanischen Fanatismus aufzureizen. Später wurde die Veröffentlichung des Reformplanes, der von den Behörden fälschlich und absichtlich im Sinne völliger Autonomie für die Armenier ausgelegt wurde, zur Aufreizung der muhammedanischen Bevölkerung gegen die Christen benutzt. Als die Nachricht von dem ersten Massacre Konstantinopel erreichte, sagte ein hoher türkischer Beamter zu einem der Botschafter: „Massacres sind wie die Windpocken, alle müssen sie haben; aber niemand bekommt sie zum zweiten Mal.“ Das war ein leiser, wenn nicht malitiöser Wink von dem, was man zu erwarten habe. Selbst der Sultan, als er der Zustimmung zum Reformentwurf zu entrinnen versuchte, sagte den Botschaftern, um sie einzuschüchtern, daß Unruhen daraus entstehen würden. Und der Erfolg lehrt, daß er wußte, wovon er sprach.

3. Auch in Bezug auf die Nationalität der Opfer waren strikte Ordres gegeben. Der Schlag sollte nur die Armenier treffen. In vielen Städten, die Massacres hatten, sind starke griechische Bevölkerungen. Niemand hat sie angerührt. Wenn trotz vorheriger Warnung seitens der Behörden doch etliche Griechen umkamen, war es ein Zufall. Noch während der Massacres trafen strengste Befehle ein, die Griechen zu schützen. Man wußte in Konstantinopel, daß man im Falle eines Angriffs auf die griechische Konfession es sofort mit Rußland zu thun bekommen würde. Solche Ordres allein schon, die den Schutz der Behörden auf eine Konfession beschränkten, erklärten die andere, die armenische, für vogelfrei. Uebrigens gelang es im Vilajet Aleppo und Diarbekir doch nicht, dem entfesselten muhammedanischen Fanatismus solche Schranken aufzuerlegen. Die Syrer, Jakobiten und Chaldäer wurden trotz der Befehle von oben mit den Armeniern über einen Kamm geschoren. Mit besonderer Sorgfalt hatte die Centralregierung eingeschärft, ja keinem Unterthan fremder Nationen, selbst den verhaßten Missionaren nicht, auch nur ein Haar zu krümmen. Man wußte, daß ein einziger Europäer der Pforte

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Leipzig 1897, Seite 66. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/68&oldid=- (Version vom 31.7.2018)