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Diese Zwangserklärungen wurden fast allerorten, wie es scheint, schon durch die eigene Initiative der Lokalbehörden erpreßt. Für die Aufhellung des Dunkels, welches bisher über das Entstehen der armenischen Massacres schwebte, ist es aber von besonderem Werte, festzustellen, daß auch die Emissäre des Sultans und die Enquete-Kommissionen, die von der Central-Regierung nach den Massacres in die Provinzen gesandt wurden, es sich angelegen sein ließen, solche Zwangsadressen sei es selbst zu erwirken oder von den Lokalbehörden erwirken zu lassen, wie denn überhaupt diese Kommissionen sich ihrer Aufträge auf die merkwürdigste Weise erledigt haben.

Nach Baiburt und Mezere kamen zwei Kommissare, riefen einige der ersten Männer unter den Armeniern zu sich, sagten ihnen, wieviel von dem gegenwärtigen Herrscher für ihr Volk gethan worden sei, schoben alle Schuld der Unruhen auf sie und drohten, daß noch größere Strenge angewendet werden würde, wenn sie noch weitere Unruhen verursachten. Diese Kommissare, welche herumreisten, um die Spuren der Verwüstungen hinwegzuschaffen, zwangen die Armenier, Läden und Bazare zu öffnen, obgleich sie keine Waren zum Verkaufen hatten. Anfang Januar kamen mehrere Regierungsbeamte in die Provinzen Charput und Diarbekir, um die vor kurzem bekehrten Dörfer zu besuchen und den Einwohnern einzuschärfen, wenn gefragt, keineswegs einzugestehen, daß man sie zur Annahme des Islam gezwungen habe. Im anderen Falle stehe ihnen die Todesstrafe bevor.

Die türkische Enquete-Kommission in Musch begann nach ihrer Ankunft damit, den Lokalbehörden Vorwürfe zu machen, daß es ihnen noch nicht gelungen sei, von den Armeniern von Musch Dankadressen an den Sultan zu erwirken. Der Pascha rief den Vorsitzenden der Ephorie und forderte ihn unter Drohungen auf, ein Danktelegramm zu unterzeichnen. „Aber wofür wollen Sie, daß wir uns bedanken?“ fragte der Vorsitzende. „Das geht Sie nichts an, thun Sie wie die andern.“ Er bat, das Telegramm vom Metropolitan unterzeichnen zu lassen und entfernte sich. Auch in das Gefängnis wurde geschickt. Nachdem man die Gefangenen gefoltert, ihnen die Bastonnade gegeben, Massen von Eiswasser über ihre Köpfe geschüttet und ihren Leib mit Nägeln durchbohrt, erpreßte man von ihnen ein Telegramm an die Centralbehörde, worin sie die Verantwortlichkeit der Unruhen auf sich nahmen und die armenische Bevölkerung der Anstiftung beschuldigten.

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/57&oldid=- (Version vom 31.7.2018)