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Defensive entschlossen, was nur in verschwindendem Maße der Fall und wegen der Plötzlichkeit der Ueberfälle selten möglich war, ist es ihnen hernach, wie in Gurun und Diarbekir, um so schlimmer ergangen. In einzelnen Fällen, wo man fürchtete, daß das Militär schon zu sehr mit der christlichen Bevölkerung fraternisiert hätte, wurden unmittelbar vor den Massacres Truppen-Dislokationen vorgenommen, oder, wo die Besatzung zu schwach war, Verstärkungen herangezogen. Beim Ausbruch der Massacres selbst gab die Notwendigkeit, die Ordnung wieder herzustellen, die besten Vorwände, die armenischen Quartiere zu besetzen, Einquartierungen in die Dörfer zu legen, Reserven (Redifs) auszuheben und die irregulären Truppen hierhin und dorthin zu lancieren, um dann im gegebenen Moment die Ordre zum Ueberfall zu erteilen. Die Zwischenzeit von ihrer Stationierung an irgend einem Platz, scheinbar zum Schutz der Bevölkerung, bis zum definitiven Ueberfall, pflegte das Militär, die Redifs und die Zaptiehs zu den einträglichsten Erpressungen und fortgesetzten Entehrungen ihrer Schutzbefohlenen zu benutzen. Nach Beendigung der Verwüstungen und Bergung der Beute wurde dann das Militär nur noch hier und da für die Aufräumungsarbeiten herangezogen.

Die Aufgabe der Civilbehörden war ungleich komplizierter, da sie mit einer doppelten Front zu agieren hatten. Der muhammedanischen Bevölkerung gegenüber mußten sie die Aufreizung zu den Massacres, die Vorbereitung des Ausbruchs und die Garantie für die Straflosigkeit aller Schandthaten übernehmen, während sie der christlichen Bevölkerung und insbesondere den Konsulaten gegenüber, soweit sie es über sich zu gewinnen vermochten, die Arglosigkeit selbst spielten, durch betrügerische Versprechungen ihres Schutzes die Opfer bis zu dem zuvor fixierten Schlachttage hinzuhalten und durch perfide Maßregeln in einer Lage zu überraschen suchten, in der sie der Schlag möglichst plötzlich, sicher und furchtbar traf. Die durch die offizielle türkische Statistik sicher bezeugte Thatsache, daß den Hekatomben von hingeschlachteten Armeniern nur ganz verschwindende Verluste von wenigen Toten auf seiten der Türken gegenüberstehen, – eine Thatsache, über die schon der Botschafterbericht keinen Zweifel ließ – wäre ein absolutes Rätsel, wenn nicht die Lösung so verwünscht einfach wäre.

Auf dem ganzen Gebiet der Massacres wurde, wo etwa ein Widerstand vonseiten der Armenier zu befürchten war, von den Behörden

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 43. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/45&oldid=- (Version vom 31.7.2018)