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wurden und mit ihrer Ehre zugleich ihren Christenglauben opfern mußten.

Begreift man nun wohl, was in Armenien Hunderte von Frauen in den freiwilligen Tod trieb? Was jene fünfzig Frauen von Lessonk und Ksanta bewog, sich in die Brunnen zu stürzen oder in die Abgründe zu springen? Welche Schrecken die Seele jener vornehmen Armenierin erfüllte, die mit einer Schar von Frauen, Kindern und wenigen Männern von Uzun Oba (25 Meilen östlich von Charput) weggeschleppt wurde und am Ufer des Euphrat angelangt, ihren Gefährtinnen zurief, nach dem Flusse stürzte und in die Wellen sprang? Beweis genug, daß Schande schlimmer ist als Tod, wenn 55 Frauen und Kinder ihr folgten und ihren Tod in den Wellen fanden.

Oder giebt es ein menschliches Herz, das einem alten, unglücklichen Vater sein namenloses Weh nicht nachempfinden könnte, wie es sich in einem Brief an einen Sohn in der Fremde also ausspricht: „O, ich wage es dir nicht zu sagen ... Sie kamen und drohten mich zu töten, wenn ich ihnen deine Schwester nicht ausliefern würde. Alles hatten sie schon fortgeschleppt: Decken, Betten, Kleider, Lebensmittel und selbst das Brennmaterial, als sie wiederkamen, um auch noch unsere Tochter zu fordern. Ich widerstand ihnen, bereit zum äußersten. Aber, als sie den Säbel an meiner Kehle und meinen Tod vor Augen sah, da warf sie sich selbst den Türken zu Füßen und schrie: Schont meinen Vater, hier bin ich!

Und sie haben sie weggeschleppt.“

Daß aber die Roheit der kurdischen Horden und der Cynismus des städtischen Pöbels durch die Schandthaten der Offiziere und Soldaten weit in den Schatten gestellt wurde, das soll den Bewunderern türkischer Armeeorganisationen und den Lobrednern muhammedanischer Gesittung nicht vorenthalten bleiben. Mich ekelt zwar, meine Feder in diesen Pfuhl von Schande einzutauchen, aber wessen die Wächter der Ordnung und des Gesetzes im Lande der „armenischen Reformen“ fähig sind, das muß doch festgenagelt werden!

Der folgende kurze Bericht wird durch zwei von einander unabhängige Zeugnisse, die vor mir liegen, verbürgt: „In dem Dorfe Husseyinik (Vilajet Charput) versammelten ungefähr 600 Soldaten (und wo Soldaten sind, sind auch Offiziere) eine gleiche Zahl von ungefähr 600 armenischer Frauen und junger Mädchen im Militär-Depot

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 30. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/32&oldid=- (Version vom 31.7.2018)