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geflüchtet in der Absicht, von dort in die Berge von Zeitun zu fliehen. Etwa 4000 Personen waren so beisammen, als sie sich eines Morgens plötzlich von Soldaten umringt sahen. Ein furchtbares Morden begann, aus dem nur 380 Frauen und Kinder übrig blieben, die nach dem blutigen Werk auf einen Haufen gesammelt, von den Soldaten zwei Tagereisen lang wie eine Herde von Schafen nach Marasch getrieben wurden. Warum sie nicht auch umbringen? Der Ruhm der Barmherzigkeit, die die Unschuld beschützt, sollte der Regierung des Sultans gesichert bleiben. Daß freilich bei diesem Viehtreiben in der Winterkälte des Dezember das arme Volk im Schnee der Berge waten, die verschmachtenden Kinder von den Müttern am Wegesrand liegen gelassen werden mußten, weil zum Rasten und Stehenbleiben keine Zeit war, thut solchem Liebeswerk keinen Eintrag. O wäre man barmherzig gewesen und hätte sie alle erschlagen, denn welche Freude kann eine Mutter noch am Leben haben, die erzählte, daß, als sie ihre beiden Kinder nicht mehr tragen konnte, sie glücklich war, beide auf eins der Tiere zu setzen, das den Soldaten gehörte. Als sie aber an einen Fluß kamen, warfen die Unmenschen die Kleinen ins Wasser.

Ist nicht genug des Bluts und der Thränen geflossen? Wann endlich wird der Schmerzensschrei eines gemarterten Volkes das Ohr der Christenheit erreichen? Und was sagen jene christlichen Großmächte dazu, die seit 18 Jahren ihre schirmende Hand über Armenien halten und papierene Reformen „im Namen des Allmächtigen“ einem geknechteten Volk verbrieft und versiegelt haben?

Doch genug davon, denn noch ein Blatt will beschrieben sein, beschrieben mit Schande, Blut und Thränen. „Die Männer schlagt tot! Ihr Eigentum, ihre Frauen und Mädchen sind unser!“ Das war die Losung in Cäsarea, mit der die Soldaten den bewaffneten Pöbel zu Mord, Plünderung und Schändung aufriefen. Und diese Losung ist befolgt worden in jeder der Hunderte von Städten und Tausende von Dörfern, über die sich der Greuel der Verwüstung ergoß. Schon vor den Massacres hatten die Soldaten die Schamlosigkeit, christliche Mütter aufzufordern, ihnen ihre Töchter zu reservieren, denn bald, sagten sie, würden alle Christenmädchen im Lande ihr eigen sein.

Die Zahl von 85 000 Erschlagenen können wir nachrechnen, soweit unsere Informationen reichen, und die Totenliste ist entfernt noch nicht

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 28. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/30&oldid=- (Version vom 31.7.2018)