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In der That sehr merkwürdig, daß, als die Schafe eines Tages die Wölfe überfielen, solche Herden von Schafen umkamen und nur eine so geringe Zahl von Wölfen von den reißenden Schafen zerrissen wurde. Die Sache bedarf offenbar noch der Aufklärung.

Doch nun zu den Massacres. Es ist keine Frage, die Abschlachtung der Armenier war für die Türken ein Fest. Mit Trompetensignalen begonnen, mit Prozessionen beschlossen, unter dem Gebet der Mollahs, die von der Höhe der Minarets den Segen Allahs auf das Gemetzel herabriefen, vollzog sich das Ganze in bewunderungswürdiger Ordnung nach dem zuvor vereinbarten Festprogramm. In brüderlicher Einmütigkeit mit dem Militär, den Redifs (Reserven), den Zaptiehs (Gendarmen) und den neugeschaffenen kurdischen Irregulären, die als Hamidieh-Regimenter nach dem Namen des regierenden Sultans genannt wurden, begab sich der von den Behörden mit Waffen ausgerüstete Pöbel ans festliche Geschäft des Mordens. Die Stimmung war die beste. Die türkischen Frauen mit ihrem Zilghit, dem kreischenden Kehllaut ihrer Kriegsrufe, ermunterten ihre Braven und übertönten das Geschrei der Opfer mit dem Gebrüll ihrer Hochzeitslieder. Ein wilder, menschenfresserischer Humor bemächtigte sich des edlen Pöbels. Und warum auch nicht? Wenn hier ein Offizier ermutigte: „Nieder mit den Armeniern, das ist der Wille des Sultans!“ wenn dort ein Vali ermahnte: „Seid rührig, laßt nicht ab zu töten, zu plündern und zu beten für den Sultan!“ warum sollten sie innehalten mit Beten und warum abstehen vom Morden? Lag doch der Lohn der Frömmigkeit vor ihren Augen: die aufgestapelten Waren in den Magazinen armenischer Kaufleute und sämtliche Habe in ihren Häusern, so viel sich nur erraffen und hinwegschleppen ließ. War doch überdies völlige Straflosigkeit jeglicher Schandthat ihnen sicher, und von der sorglichen Regierung für ihre getreuen Unterthanen alle nur wünschenswerten Maßregeln getroffen, um das Geschäft des Mordens bei allem Blutvergießen so ungefährlich als nur möglich für alle Beteiligten zu machen, so ungefährlich, wie das Abstechen der Hammel im Schlachthaus.

In keiner Weise war die Phantasie des mutigen Pöbels und der tapferen Soldaten durch eine Sorge um das eigene Leben in Anspruch genommen. Schrankenlos konnten sie sich dem Waffentanz der Massacres und den darauf folgenden Orgien der Schändung hingeben.

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/25&oldid=- (Version vom 31.7.2018)