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mit allen überlebenden Einwohnern und hunderte von Familien in den Städten. In Moscheen verwandelte Kirchen: 328. Zahl der Notleidenden: etwa 546 000. Diese Zahlen bezeichnen nur den Umfang unserer statistischen Informationen, nicht den der Thatsachen selbst, die sich also bei weitem schrecklicher herausstellen werden.

Mit Hinzurechnung all der Tausende, die in den noch nicht registrierten Dörfern erschlagen, an ihren Wunden erlegen, auf der Flucht verschollen, an Hunger gestorben sind, Seuchen erlagen und unter dem Schnee des Winters in den Bergen begraben wurden, wird man die Zahl der Opfer der armenischen Massacres mit 100 000 noch zu niedrig berechnen.


2. Etwas für starke Nerven.

Unser erster Bericht konnte der Hauptsache nach nur eine statistische Uebersicht bringen. Zahlen sind trocken. Das Auge des Lesers gleitet über etliche 100 oder 1000 von Toten, über etliche 10 000 oder 100 000 von Notleidenden leicht hinweg, und eine Null mehr oder weniger macht für die Empfindungsbilanz wenig aus. Darum ist es notwendig, den Stoff zu beleben und wenigstens an einigen Beispielen zu zeigen, wie sich trockene Zahlen in brutaler Wirklichkeit ausnehmen. Es mag uns vielleicht jemand zürnen, daß wir Dinge ans Licht ziehen, vor denen sich das Auge lieber verschließt, und selbst vor der Schilderung des Gräßlichsten nicht zurückschrecken, aber das Opfer, das wir der Gemütsruhe der Leser zumuten, ist doch nur eine gelinde Nervenerschütterung, während die Hekatomben von Blut, Qual, Geschrei und Thränen, von denen wir eine der Wirklichkeit mehr entsprechende Vorstellung erwecken möchten, bis an die äußersten Grenzen menschlicher Leidensfähigkeit von Hunderttausenden durchgekostet wurden. Wäre es freilich so, wie man aus manchen Auslassungen unserer offiziösen Presse schließen müßte, daß diese himmelschreienden Schandthaten und Massenmorde nichts anderes sind als nichtsnutzige Phantasieprodukte englischer Diplomaten und Zeitungsschreiber, ausgeheckt, einzig zu dem Zwecke, um von Zeit zu Zeit „Europa mit einer neuen Auflage armenischer

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 21. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/23&oldid=- (Version vom 31.7.2018)