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werden würden,“ sagte kürzlich eine Dame zu mir, „wissen Sie, das geschorene Lamm wird ja vor dem Winde behütet.“ „Mag sein,“ sagte ich, „aber ich habe in letzter Zeit mit Hunderten von armenischen Frauen geredet, und habe kein Zeichen davon gefunden, daß sie ein weniger feines Gefühl für weibliche Ehre hätten, als andere Frauen. Welche Laster oder Tugenden armenische Frauen sonst haben mögen, soviel ist sicher, daß Keuschheit eine ihrer hervorragendsten Eigenschaften ist. An vielen Orten spricht eine armenische Frau mit keinem andern Manne als mit ihrem Gatten, außer in Gegenwart desselben; selbst ihren nächsten Verwandten und Angehörigen hat sie nichts zu sagen; und ihre sittliche Reinheit ist über jeden Verdacht erhaben, in den volkreichen Vorstädten von Erzerum so gut wie in den Thälern von Sassun. Und gerade sie sind es, welche beständig von brutalen Kurden und vertierten Türken mißhandelt werden, oft so lange, bis der Tod sie von ihren Leiden befreit.

Die Schwierigkeit, mit Geld, Kleidern oder Frauen auszuwandern, wird am besten durch einige Beispiele veranschaulicht. Nicht als ob die Türken etwas dagegen hätten, daß sie ausziehen, im Gegenteil – dies ist der sicherste Beweis dafür, daß vonseiten der Türken ein Vernichtungsplan besteht und ausgeführt wird – sie treiben sie tatsächlich über die Grenze und verweigern ihnen dann hartnäckig die Erlaubnis zur Rückkehr.

Als Sahag Garoyan nach den Gründen gefragt wurde, weshalb er mit seiner Familie aus seinem Heimatdorfe Kheter (Sandjak von Bayazid) ausgewandert sei, sagte er folgendes aus: „Wir konnten nicht länger bleiben, weil wir wie das Vieh behandelt wurden, und zwar von Rezekam Bey, dem Sohne des Djaffar Agha, und seinen Leuten, welche zu Sr. Majestät Hamidieh-Reiterei gehören, und welche daher weder vor Gericht gezogen noch bestraft werden können. Ich wanderte gegen Ende des vorigen Jahres aus. Rezekam war mit seinem Gefolge über uns hergefallen, hatte von den Häusern der Armenier Besitz ergriffen und die Insassen ausgetrieben. Nur sieben Familien durften in ihren Wohnungen bleiben, die anderen mußten ihre Zuflucht in der Kirche suchen. Wir hatten nun die Kurden drei Monate lang zu ernähren, mußten ihnen unser Korn, unsere Schafe u. s. w. geben und ihr Vieh füttern, ja einigen von ihnen mußten wir als Lasttiere dienen (nicht ungebräuchlich in Armenien). Rezekam selbst stattete jede Woche

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 189. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/191&oldid=- (Version vom 31.7.2018)