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einen Teil ihres Essens, das sie sich am Munde absparen mußten, den Kurden, und einer ließ sie abwechselnd den Tag über seinen Platz einnehmen. Es war nicht viel; denn die Kurden selbst hatten nur 2½ Fuß Raum zum Sitzen, aber es war doch etwas. Der Kurde jedoch wurde streng für die Wohlthätigkeit bezw. für das Geschäft bestraft. Seine Brotportionen wurden ihm entzogen, und er wurde mehrere Tage lang angekettet. Die Männer, denen er Gutes gethan hatte und ihm, wie sie sagen, das Leben verdanken, waren angesehene Leute in ihrem Dorfe und noch dazu unschuldige Leute, die einige Wochen später entlassen wurden, weil sie keinem „Unrecht gethan hatten.“

Die Armenier könnten sich selbst helfen, wenn sie es wirklich wollten“, hörte ich neulich jemanden im Brustton der Ueberzeugung sagen, „sie brauchen ja nur Muhammedaner zu werden. Sicherlich würde sie Gott nicht dafür bestrafen.“ Jawohl, ihre Leiden hören auf, sobald sie den Islam annehmen, und sie gelten ja, obgleich sie wahre Märtyrer sind, doch bloß für verächtliche Verbrecher.

Viele von denen, deren Fleisch schwach war, so willig auch ihr Geist sein mochte, haben ihren Glauben abgeschworen, und andere sind bereit, dasselbe zu thun. Manche, mit denen ich verkehrte, fragten mich, ob ich ihnen raten würde, ihre Familien von Schande und Tod zu erretten durch das Bekenntnis, daß es nur einen Gott gebe und Muhammed sein Prophet sei. Ich antwortete damit, daß ich der Hoffnung Ausdruck gab, die mir doch nicht recht gewiß war, es werde das christliche Europa ihnen rechtzeitig zu Hilfe kommen und sie davor bewahren, sich bei einer so peinlichen Alternative entscheiden zu müßen. Aber eines ist sicher: Wenn sie den Islam annehmen, dann müssen sie es gründlich thun und für immer. Nachträgliches Zurücknehmen giebt es nicht, da die fürchterlichsten Strafen diejenigen treffen würden, die es versuchen wollten. Die folgende Erzählung soll zeigen, wie stark für die Armenier die Versuchung sein kann, ihren Glauben zu verleugnen.

Melik Apha war ein angesehener, vornehmer Armenier im Dorfe Abri, gesegnet mit Söhnen und Enkeln, mit Vieh, Land, Korn und Heu im Ueberfluß – eine Art armenischer Hiob. Ein vornehmer Muhammedaner desselben Dorfes, namens Kiamil Sheikh, beneidete

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 186. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/188&oldid=- (Version vom 31.7.2018)