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sicher davor, je zur Rechenschaft gezogen zu werden, so lange seine Opfer Armenier waren. Giebt es denn da keine Gesetze? möchte man fragen. O ja, es giebt Gesetze und für dortige Verhältnisse recht gute, wenn sie nur angewendet werden; denn in dem Augenblicke, als er die kaiserliche Post beraubte und eine türkische Frau entehrte, wurde er des Todes schuldig befunden.

Also: Gesetze, Reformvorschläge und Konstitution, und sollten sie von den weisesten Gesetzgebern und Staatsmännern verfaßt sein, sind das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben sind, solange es den Türken zusteht, dieselben ohne Kontrolle zu handhaben. Dafür sind das Leben und die Handlungen der türkischen Beamten zu jeder Zeit innerhalb der letzten 50 Jahre ein unwiderleglicher Beweis.

Hier habe ich zum Beispiel den Bericht über einen türkischen Beamten und Gesetzeswächter, S. Excellenz Hussein Pascha, Brigadegeneral Sr. Majestät des Sultans. Dieser Bericht ist absolut zuverlässig. – Hussein stand an der Spitze einer kurdischen Räuberbande, die er bis zu etwa 2000 Mann verstärken konnte, und suchte nun die friedlichen Bewohner der Provinz unaufhörlich mit Mord, Brand und Notzucht heim, bis sein bloßer Name die Mutigsten in Angst und Schrecken versetzte. Die Armenier von Patnotz hatten so viel von ihm zu leiden, daß sie ihr Dorf verließen und in Masse nach Kara Kilisse auswanderten, wo der Kaimakam residierte. Auf dies hin umzingelte Hussein mit einer zahlreichen Truppe das Haus des Bischofs von Karakilisse und zwang ihn, die Leute wieder zurückzuschicken. Selbst die Muhammedaner waren über seine Schandthat so empört, daß der muhammedanische Priester von Patnotz Sheikh Nari ihn beim Vali von Erzerum verklagte. Auf dies hin sandte Hussein Leute aus, die den Sheikh Nari ermordeten und seine Schwiegertochter so ängstigten, daß sie starb. Bei einem einzigen Raubzuge trieb er 2600 Schafe, viele Pferde etc. weg, stahl 500 Pfund, verbrannte 9 Dörfer, tötete 10 Männer und schnitt 11 anderen Nasen, Ohren und Hände ab. Anfangs 1890 raubte er 5 christliche Mädchen aus Patnotz, und im September und Oktober desselben Jahres erhob er von der Bevölkerung jenes Distriktes eine Kontribution von 300 Pfund. Für keines dieser Verbrechen wurde er je zur Verantwortung gezogen. Im Dezember 1890 schickte er seinen Bruder aus, um noch mehr Geld zu

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 177. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/179&oldid=- (Version vom 31.7.2018)