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besonders seit einigen Jahren, mißhandelt und unterdrückt, bald durch die Regierung selbst, bald durch kurdische Räuber. So wurde ich im vergangenen Jahre (1894) plötzlich in meinem eigenen Hause durch türkische Polizeisoldaten und Gendarmen verhaftet und in das Gefängnis zu Bitlis gebracht, wo ich mißhandelt und in schauderhafter Weise gefoltert wurde. Nachdem ich vier Monate dort gefangen gewesen war, wurde ich freigelassen gegen Bezahlung von 450 türk. Pfd. (9000 Mk.). Kein Grund, nicht einmal ein Vorwand für diese Behandlung wurde angegeben. Als ich heimkam, war mein Haus in Unordnung, mein Geschäft ruiniert, mein Vermögen verloren. Mein erster Gedanke war, bei der türkischen Regierung auf Schadenersatz zu klagen, ich unterließ es aber aus Furcht, daß ich wieder verurteilt werden könnte. – Da ich höre, daß Sie nach Armenien gekommen sind, um die Lage des Volkes zu erforschen, so wage ich es, Sie um Gottes willen zu bitten, diese Thatsachen zu berücksichtigen.“ – Gezeichnet: Boghos Darmanian aus dem Dorfe Sknakhodja bei Manazkw.

Im Jahre 1890 war der Dorfälteste von Odandjor in Bulanyk – er hieß Abdal – ein für die dortigen Verhältnisse reicher Mann. Er besaß 50 Büffel, 80 Ochsen, 600 Schafe, außerdem Pferde u. s. w. Die Frauen in seiner Familie trugen goldenen Schmuck im Haar und auf der Brust, und er bezahlte 50 türk. Pfd. Steuern jährlich in die Staatskasse. Das war 1890. Im Jahre 1894 war er gänzlich verarmt, im tiefsten Elend und dem Hungertode nahe. Sein Dorf und die ganze Gegend war ausgeplündert, und die Bewohner sozusagen nackt ausgezogen worden, die türkischen Behörden aber sahen mit beifälligem Lächeln zu. Während des Jahres 1894 wurden allein in den Distrikten von Bulanyk und Musch nicht weniger als 1000 Stück Rindvieh und Schafe von den Kurden weggetrieben.

Dies war die Methode, die im ganzen Lande üblich war; im einzelnen kamen je nach der Lage der Dinge, der Ortschaften etc. Verschiedenheiten vor, aber die Mittel und der Zweck waren immer gleich. Das Resultat ist das völlige Verschwinden allen Reichtums und ein mit rasender Schnelligkeit überhand nehmendes, intensives und unheilbares zur Verzweiflung und zum Wahnsinn treibendes Elend.

Zwischen dem Vali oder Generalgouverneur und dem Zaptieh der Steuereinnehmer giebt es viele Stufen der Beamtenhierarchie, aber an jeder derselben bleibt ein Teil des Besitzes fleißiger

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 163. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/165&oldid=- (Version vom 31.7.2018)