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durchgeschlagen hatte und bis in das Schlafzimmer des Konsuls gedrungen war, ohne jedoch zu platzen.

„Die innere Stadt blieb von Mord und Zerstörung verhältnismäßig verschont. Dank dem thatkräftigen Major Emin Agha, der es verstand, seine Soldaten im Zaume zu halten und die zu wiederholten Malen anstürmend vorgehenden Pöbelmassen auseinanderzutreiben. (Im Ganzen kamen daher hier nur 15 Armenier um; etwa 150 Läden wurden geplündert.) Das Auftreten dieses tüchtigen Offiziers muß rühmend hervorgehoben werden. Einen völligen Gegensatz hierzu bildet das Verhalten des Majors Halim Effendi, des Befehlshabers der Truppen in Aigestan, der persönlich die Pöbelhaufen anfeuerte, indem er ihnen zurief: „Wohlan, meine Kinder! Machet nur erst alles nieder, hernach könnet Ihr in aller Ruhe rauben und plündern!“

Am Montag, den 22. Juni, gegen Mittag, machte ein Trompetensignal den achttägigen Metzeleien ein Ende. Die Vorstadt Aigestan wurde mit einem starken Militärkordon umstellt; zahlreiche Militärpatrouillen durchzogen die Straßen überall. Die zusammengeflüchteten Armenier wurden im Namen der Regierung aufgefordert, sich in ihre Wohnungen – soweit solche der Zerstörung entgangen sind – zurückzuziehen; dieselben trauten sich jedoch nicht, ihre Zufluchtsstätten zu verlassen. Die aus der Stadt weggezogenen Kurdenhorden und die Hamidieh-Reiterei warfen sich nun auf die Dörfer der Umgebung sowie auf alle Ortschaften des Vilajets Wan, mordend, plündernd, sengend und brennend. Das Schicksal der unglücklichen armenischen Landbevölkerung war entsetzlich. Viele Dörfer sind dem Erdboden gleich gemacht und die Bewohner männlichen Geschlechts zum größten Teil hingeschlachtet, Mädchen und junge Frauen gewaltsam entführt worden.[1] In der Stadt selbst sind gegen 200 Frauen und Mädchen von den Soldaten in die Kaserne fortgeschleppt worden. Viele Armenier wurden mit Gewalt gezwungen, zum Islam überzutreten. Andere entflohen nach allen Richtungen. Die Klöster und Kirchen wurden geplündert und in Brand gesteckt, unter anderen auch das altehrwürdige Kloster

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 152. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/154&oldid=- (Version vom 31.7.2018)
  1. In dem aus Persien uns zugegangenen Briefe wird mitgeteilt, daß ca. 150 solcher geraubter Frauen und Mädchen auf persischen Märkten als Sklavinnen für 8 gran (= 5 Mark) öffentlich feilgeboten worden seien. (Anm. d. Uebers.)