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begann jedoch der Angriff des fanatisierten türkischen Pöbels von neuem; jetzt war die Reihe an den übrigen, am vorigen Tage verschont gebliebenen Straßen in Aigestan. Hier leisteten die in ihren Wohnungen verbarrikadierten, notdürftig bewaffneten Armenier heftigen Widerstand. Die anstürmenden Massen wurden zurückgeschlagen. Es gelang auch einer Menge von Frauen und Kindern, die dem Gemetzel des vorhergehenden Tages entronnen waren, mit Hilfe einiger Konsuln, in dem von den Armeniern verteidigten Quartiere Zuflucht zu finden. Unterdes füllte sich die Stadt nach und nach mit raublustigen Kurden und türkischen Zigeunerbanden aus der Umgebung.

Mittwoch, den 17. Juni erneuerte sich der Angriff der nunmehr aus allen möglichen mord- und raublustigen Elementen zusammengesetzen Masse auf die armenischen Stellungen, unterstützt zugleich von regulären Hamidieh-Reitern. Die Armenier wehrten sich aus allen Kräften: es war für sie ein Kampf auf Leben und Tod. Nur zeitweilig unterbrochen, setzte sich der Kampf, immer heftiger werdend, die Nacht hindurch bis zum Morgen des 18. Juni fort. Die Lage der eingeschlossenen Armenier wurde immer schrecklicher. Das reguläre Militär, das bisher nur vereinzelt an dem Kampfe teilgenommen hatte, erhielt nun den Befehl, in geschlossener Ordnung gegen „die Aufrührer“ vorzugehen. Zu gleicher Zeit wurde mit einigen auf einer Anhöhe in Aigestan aufgestellten Kanonen ein mörderisches Feuer auf die Stellungen der Armenier eröffnet. Der Kommissär Saadeddin Pascha erklärte dem Pater Dr. Sahak, dem geistlichen Haupt der Armenier hierselbst, sowie den Konsuln, daß er, falls nicht „die Anfrührer“ sofort die Waffen streckten und sich auf Gnade und Ungnade ergäben, von der Zitadelle aus mit Krupp’schen Kanonen die ganze Stadt beschießen und zerstören würde. Die Vermittlerrolle zwischen der türkischen Regierung und den Armeniern übernahm der englische Konsul Herr Williams, der, als würdiger Vertreter der zweideutigen Politik seines Chefs und um die Gunst der türkischen Regierung buhlend, sich eifrig bemühte, in deren Sinne seine Mission zu erfüllen. Aus politischen Gründen schloß sich Konsul Williams gegen besseres Wissen sogar der türkischen Auffassung an, wonach die notgedrungene Selbstverteidigung der Armenier einfach für „Empörung“ erklärt wurde. Einen Helfer in diesem seinem Unternehmen fand er in dem amerikanischen Missionar Mr. Reynals, der sich die günstige Gelegenheit

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 149. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/151&oldid=- (Version vom 31.7.2018)