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die ich besucht habe, abgesehen von dem Fall von Zeitun, über dessen Ursprung ich nicht in der Lage bin, eine Meinung auszusprechen, können unmöglich, wie ich glaube, diese Massacres geduldet oder herbeigeführt haben, ohne Instruktionen in der Hand zu haben, die ihr Vorgehen rechtfertigten. Diese Instruktionen sind das Resultat ihrer wohlüberlegten und ihrer unverantwortlich lügenhaften Berichte nach Konstantinopel inbezug auf die Armenier, zugleich mit der falschen und jeder Staatsweisheit entbehrenden Haltung der Centralregierung in dieser ganzen Frage. Es ist schwer, die Verantwortlichkeit genau zwischen die Central- und Provinzial-Behörden zu verteilen. Aber ich bin sicher, daß die Regierung des Sultans das Gefühl hat, daß der geheime Mechanismus, der diese völligen Vernichtungen von Leben und Eigentum zustande gebracht hat, das Licht des Tages scheuen muß, und daß die Regierung niemals, es sei denn unter dem Druck der auswärtigen Mächte, wie in Syrien im Jahre 1861, eine ernstliche Untersuchung bestimmen würde, sondern es vorziehen wird, den entstellten Berichten über die letzten Ereignisse, mit denen sie von ihren skrupellosen Provinzialbehörden versorgt wurde, Glauben zu schenken. Ein diplomatischer Druck mag den Sultan dazu bestimmen, Untersuchungs-Kommissionen einzusetzen, aber wenn nicht die Furcht vor dem bewaffneten Einschreiten fremder Mächte bei der Erwägung einer solchen Kommission mitspielt, wird das Vorgehen derselben, weit entfernt die Wahrheit an den Tag zu bringen und das Unheil wieder gut zu machen, nichts anderes als eine Farce sein, die, weil bestimmt, Europa zu täuschen, nur das beklagenswerte Los der christlichen Bevölkerung dieser Provinzen verschlimmern würde.

In dem Wirrwarr von Aussagen und Verleugnungen inbezug auf die letzten Ereignisse steht aber eine Thatsache unwidersprechlich fest. Alle Schichten der ottomanischen Bevölkerung haben trotz ihrer allgemeinen Unwissenheit ein feines Sensorium inbezug auf die eigentlichen Tendenzen der Wünsche ihrer autokratischen Regierung, und sowohl Muhammedaner als Nichtmuhammedaner bestätigen mit einem Munde, daß die Regierung wünschte, daß die Massacres stattfänden, und daß, wenn sie es nicht gewünscht hätte, sie nicht hätten stattfinden können. Diese Regierung kennt die Anschauung beider Teile, aber bis jetzt meidet sie eine Untersuchung und zeigt sich durchaus abgeneigt, das Unheil wieder gut zu machen. So lange dies nicht geschieht,

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 139. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/141&oldid=- (Version vom 31.7.2018)