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Aintab abreisen könne, da alles ruhig sei. Darauf ging er zur Kathedrale, wo die armenische Nationalversammlung ihre Sitzung hielt, und eben eine Mitteilung an den Mutessarif gesandt hatte, die ihn auf die Ursache ihrer Besorgnis aufmerksam machte und um Schutz bat. Der Hauptmann gab ihnen vonseiten der Regierung die Versicherung, daß keine Unruhe stattfinden würde. Kaum jedoch hatte er das Gebäude verlassen, als der Sturm losbrach, und das allgemeine Massacre des 28. und 29. Dezember begann. Am Sonnabend Morgen hatte der Kommandeur der Truppen den nicht armenischen Christen sagen lassen, sie sollten sich in ihren Kirchen versammeln, dieselben nicht verlassen und unter keiner Bedingung auch nur einem einzigen Armenier Zuflucht gewähren.

Das Militär mit einiger berittener Polizei hatte sich auf einem Hügel aufgestellt, an dessen Abhang das armenische Quartier gebaut ist, und drängte sich an die Hauptausgänge des Quartiers. Hinter ihnen stand der bewaffnete Pöbel, während die Minarets mit Muhammedanern dicht besetzt waren, offenbar in Erwartung eines bevorstehenden Ereignisses; auch die türkischen Frauen drängten sich auf den Dächern und Abhängen der Festung, die das armenische Quartier überragt. Zwischen 11 und 12 Uhr ergoß sich ein Strom von bewaffneten Muhammedanern in derselben Richtung, angefeuert von ihren Frauen, die das wohlbekannte „Zilghit“, einen besonderen Kehllaut ausstießen, der bei solchen Gelegenheiten von orientalischen Frauen gebraucht wird, um ihre Tapfern zu ermutigen. Gegen Mittag gab der Muezzin das Mittagsgebet nur von einem Minaret, und alle anderen Minarets blieben still; von der Spitze der Festung, die an einer Seite das armenische Quartier überragt, wurde mit einem glitzernden Glas in Gestalt eines Halbmondes ein Zeichen gegeben, während von einem Minaret auf der anderen Seite des Quartiers ein Mollah eine grüne Fahne schwenkte.

Wenige Schüsse wurden abgefeuert, und mit einem Trompetensignal aus den Reihen der Soldaten wurde zum Angriff geblasen. Man sah, wie die Soldaten ihre Reihen öffneten und dem Pöbel hinter ihnen erlaubten, nach vorn zu kommen. Sodann stürzten sich die Soldaten und der Pöbel auf das armenische Quartier und begannen eine allgemeine Niedermetzelung aller Männer über einem gewissen Alter.

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 133. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/135&oldid=- (Version vom 31.7.2018)