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Mächte versucht, diese Grenze zu überschreiten. Sie hielten es deshalb für ihre religiöse Pflicht und für eine gerechte Sache, das Leben der Armenier zu vernichten und ihr Eigentum an sich zu reißen.

Durch das eben Gesagte wurde, so befremdlich es sein mag, in der That Ueberzeugung und Gewissen der Muhammedaner bestimmt und aufgeregt, als im letzten September die Demonstration in Konstantinopel stattfand.

Ich habe mit aller Sorgfalt erforscht, welchen Umfang etwa die revolutionäre Propaganda in Urfa gehabt hat, und bin zu der Ueberzeugung gekommen, daß, wenn auch ein großes Maß, meines Erachtens wohlbegründeter Unzufriedenheit unter den Armeniern darüber herrscht, daß sie in den letzten Jahren ebenso wie ihre Brüder in Anatolien thatsächlich als außerhalb des Gesetzes stehend behandelt wurden, förmliche Ungesetzlichkeiten von ihrer Seite nur in sehr geringem Maße vorgekommen sind.

Armenische geheime Gesellschaften in Europa haben, wie ja bekannt ist, den Versuch gemacht, Explosivstoffe, Gewehre und revolutionäre Litteratur in der Gegend von Aleppo einzuführen, aber ihr Erfolg in Urfa ist ein außerordentlich geringer gewesen. Es scheint, daß sie einige revolutionäre Pamphlete eingeschmuggelt haben, aber weder Gewehre noch Explosivstoffe.

Urfa übrigens fällt nicht unter den geographischen Begriff von Armenien, gehört vielmehr zu Mesopotamien oder Arabistan. So war der Stand der Dinge in Urfa, als unmittelbar nach der armenischen Demonstration in Konstantinopel, wie es scheint, hier von der Central-Regierung Ordre einlief, des Inhalts, daß, sollten die Armenier irgend einen Versuch machen, Unruhen hervorzurufen, diese sofort aufs strengste unterdrückt werden sollten, und daß, im Falle sie Widerstand leisteten, ihnen eine furchtbare Lektion (terbiyye shedide) zuteil werden sollte. Die Central-Regierung hätte wissen sollen, welche verhängnisvollen Konsequenzen im Blick auf die feindseligen Gefühle der Muhammedaner gegen die Armenier solche Instruktionen sicherlich in den Provinzen haben mußten, und eine große Verantwortlichkeit lastet auf ihr, dieselben gesandt zu haben.

Die Muhammedaner hier und anderswo interpretierten dieselben als den Wunsch des Souveräns, daß die Vorschriften des Scheri-Gesetzes in Ausführung gebracht werden sollten, und daß man sich

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 125. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/127&oldid=- (Version vom 31.7.2018)