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zuerst der türkische Stier von dem Pikador England, der sich auf das armenische Roß geschwungen, gereizt. Die anderen Mächte spielten die Banderillos und Capeadores, die ihre diplomatischen Widerhaken nach dem Stiere zu werfen und ihn mit den Bändern und Schärpen der flatternden Verträge scheu zu machen hatten. Was Wunder, daß der Stier in Wut geriet, das Roß mit seinen Hörnern aufspießte und den englischen Reiter aus dem Sattel warf. Aber das alles rührt den russischen Matador nicht. Er wartet nur, bis der Pikador im Sande liegt, um den Stier unversehens mit dem Schwerte zu durchbohren. Während man den Leichnam des edlen Rosses, das bei dem Kampfe drauf ging, aus der Arena schleift, werden sich die Toreros, den Matador an der Spitze, vor dem beifallklatschenden Amphitheater Europas verneigen.

Es war freilich kein abgekartetes Spiel, das die Mächte so aufführten. Aber die Rollen verteilten sich von selbst, und das Ende wird ungefähr das beschriebene sein. Rußland hatte Gründe genug, eine zuwartende Haltung einzunehmen, bis es in Armenien freie Hand gegenüber der englischen Einmischung erhalten. Es ging in seiner diplomatischen Ruhe soweit, daß es zeitweise sogar die Rolle des türkischen Erbfeindes mit der eines Hausfreundes des Sultans zu vertauschen schien. Aber die entente cordiale hat bereits wieder ihr Ende erreicht, und es ist wirklich des grausamen Spieles genug. Je eher es zum Ende kommt, um so besser, damit nicht noch andere edle Rosse bei dem Stiergefecht draufgehen.

Wir thun gut, die Frage „Was soll daraus werden?“ in die andere „Was gedenken die Mächte zu thun?“ zu verwandeln. Wir glauben, daß das christliche Europa ein dringendes Recht hat, eine Antwort auf diese Frage zu erhalten. Die Zahl derer ist in der Christenheit groß genug, die an barbarischen Kampfspielen keine Freude haben und glauben, daß solche rohe Sitten im 19. Jahrhundert abgeschafft werden sollten. Was gedenken die Mächte zu thun? Die Ehre der Christenheit ist bei dieser Frage beteiligt.

Zuerst: Soll die Pforte den Triumph behalten, sechs Großmächte in der Sache der armenischen Reformen düpiert zu haben? Denn darüber wenigstens sollte unter den Kabinetten Europas keine Meinungsverschiedenheit mehr sein, daß jeder diplomatische Schriftwechsel und jeder Federstrich in der Frage der armenischen Reformen,

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 119. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/121&oldid=- (Version vom 31.7.2018)