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Herrschaft sind, zu entledigen. „Wann wird der Sultan die Engländer aus Aegypten herauswerfen?“ ist eine Frage, die man oft von Muhammedanern zu hören bekommt. Spöttische Scherze, wie der daß die englische Flotte aus dem Mittelmeer geflohen sei und die Russen den Islam angenommen hätten, sind nur ein harmloser Auswuchs des Sicherheitsgefühles, in dem sich die Türken wiegen.

Um so ernster ist das Gefühl der Unsicherheit zu nehmen, das sich der christlichen Bevölkerung und der christlichen Missionen aller Konfessionen in allen Teilen des türkischen Reiches bemächtigt hat. Die beliebten muhammedanischen Schimpfworte gegen die Christenhunde, die schon in Abgang gekommen waren, werden wieder auf den Straßen gehört. Einzelne Ueberfälle und Mordanschläge gegen Christen vonseiten der Moslems gehören wieder zur Tagesordnung, und die Repressalien und Scherereien, mit denen schon seit Jahren unter dem fanatischen Regiment des gegenwärtigen Sultans die christlichen Missionen behelligt wurden, nehmen eine schärfere Tonart an. Man kann sich auch nicht darüber wundern, daß die christliche Bevölkerung den gegenwärtigen Zuständen mit der größten Besorgnis für die Zukunft entgegensieht. Ist doch der Beweis geliefert worden, daß binnen wenigen Wochen die systematische Abschlachtung der Christen großer Provinzen in Szene gesetzt werden konnte, ohne daß die christlichen Großmächte dem vorbeugen oder auch nur Einhalt gebieten konnten, ja, daß Dank der Fälschungen der öffentlichen Meinung durch die türkische Preßbeeinflußung die Thatsachen erst nach Monaten bekannt wurden. Wer steht dafür, daß nachdem das Experiment der Christenabschlachtung im östlichen Kleinasien gelungen, nicht auch das westliche Kleinasien, Syrien und Palästina an die Reihe kommt? Die Veranlassung dazu mag heute oder morgen nicht vorliegen, aber das Verhalten der Mächte gegenüber Armenien und Kreta steht dafür, daß wenn die Stunde geschlagen hat, das Einschreiten der Mächte unter allen Umständen zu spät kommen wird. Man kann aus dem Munde von Muhammedanern hören: „Wir wissen wohl, daß die Europäer unser Land haben wollen. Sie werden es bekommen, aber wir werden dafür sorgen, daß sie keinen Christen mehr darin vorfinden.“

Die Frage liegt freilich für diejenigen Landesteile der Türkei, wie Makedonien und Kreta, wo die Christen in

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 116. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/118&oldid=- (Version vom 31.7.2018)