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schärfste das Vorgehen ihrer eigenen Regierung, indem sie den kommenden Bankrott vor Augen sehen. Die türkische und christliche Bevölkerung war auch in allen wirtschaftlichen Verhältnissen so sehr aus einander angewiesen, daß die Türken den Schaden der Christen am eigenen Fleische empfinden müssen. Die Stockung des Handels trifft die besseren Klassen und die Ruinierung des Landbesitzes der Christen das zahlreiche türkische Proletariat. In den Dörfern klagen überall die Landleute, daß sie die Waren, die sie früher billig von den armenischen Händlern, die das Land bereisten, kaufen konnten, jetzt sich mit Mühe beschaffen und überdies vier-, fünfmal so teuer als früher bezahlen müssen.

Es ist eine naturgemäße Folge der Mißwirtschaft und des allgemeinen Ruins, daß die jungtürkische Partei, welche sich bis jetzt hauptsächlich aus den jüngeren und schon europäisch gebildeten Elementen der oberen Schicht der türkischen Bevölkerung zusammensetzte, auch aus den alttürkischen Kreisen beständigen Zuwachs erhält. Diese jungtürkische Partei ist keineswegs, wie es offiziell dargestellt wird, eine im gewöhnlichen Sinne revolutionäre. Sie würde in einem verfassungsmäßigen Staate eine gesunde Reformpartei bilden und auf die Besserung der Verhältnisse einen mächtigen Einfluß haben können, da sie sich aus den besten Elementen der neueren türkischen Bildung zusammensetzt. Gleichwohl sind auch auf die Jungtürken keine Hoffnungen zu setzen, denn ihre Ideale sind so sehr europäischen Ursprungs, daß sie bei einem Versuch der Durchführung das ganze geschichtliche System des türkischen Staatswesens zerstören und von vornherein an dem muhammedanischen Fanatismus scheitern müßten. So sind sie nur ein neues Element der Zersetzung. Die Pforte weiß, welche Gefahr ihr von dieser Seite droht, und den Befürchtungen des Sultans in dieser Hinsicht ist es wohl zuzuschreiben, daß er erst kürzlich, obwohl sein Palast, rings von riesigen Kasernen blockiert, schon mehr einem Kasernenhof gleicht, sich aus dem wilden Kurdistan zwei seiner geliebten Hamidieh-(irreguläre Kurden-)Regimenter zu seinem persönlichen Schutze verschrieb, deren Ausschiffung in Konstantinopel unter der europäischen Bevölkerung der Hauptstadt nicht gelinde Beunruhigung hervorrief. Wenn von offizieller Seite geltend gemacht wurde, daß die Scheikhs dieser Regimenter als eine Art von Geiseln für das Wohlverhalten der Kurdenstämme im Inneren Kleinasiens dienen sollten, so ist das

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 114. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/116&oldid=- (Version vom 31.7.2018)