Seite:Armenien und Europa. Eine Anklageschrift.pdf/115

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

seine 2000 Schafe Weide hatte, schätzte sich glücklich nach dem Raub dieselben auf 8000 oder 10 000 vermehrt zu haben. Seine 2000 hätte er durchbringen können, aber die 8000 oder 10 000 krepierten ihm alle miteinander. Die Läden und Magazine der Türken in den Städten sind mit den Waren der Armenier vollgestopft, aber wer wird für gestohlenes Gut den vollen Wert zahlen? Man bietet den fünften oder zehnten Teil, und der Türke ist noch froh, wenn er etwas los wird von dem Gut, an dem noch das Blut der Erschlagenen klebt. Aber wer kauft überhaupt etwas? Denn wer noch Geld hat, zieht es vor, es nicht zu zeigen. Der Christ, um es vor der Beutegier der Türken, der Türke, um es vor den Luchsaugen der Steuerbeamten zu verbergen. Die Verluste europäischer Firmen, die nach Armenien hinein gearbeitet haben, beziffern sich auf Millionen, und die Zahlungs-Rückstände vom letzten Jahr müssen einfach verloren gegeben werden, da die Christen nichts mehr haben, und die Türken an der allgemeinen Kalamität einen guten Vorwand haben, nichts zu geben. Auch die Verluste deutscher Firmen im nördlichen Kleinasien und in Syrien, die einen großen Teil des Waren-Importes in der Hand haben, sind, wie mir von allen Seiten versichert wird, enorm. Wenn aber die Geschädigten zu den Konsuln kommen, zuckt man die Achseln. Wer will jetzt bei der Pforte Schadenersatzklagen durchsetzen? Auch die deutsch-anatolische Bahn wird den wirtschaftlichen Ruin von Kleinasien auf Jahre hinaus aufs empfindlichste zu spüren haben.

Kein Wunder, daß jetzt die Pforte die verzweifeltsten Anstrengungen macht, neue Anleihen aufzunehmen. Die Steuerkraft des Landes ist trotz des rigorosen Erpressungssystemes der Steuerverwaltung aufs äußerste erschöpft. Wer wird ein solcher Narr sein, der Hohen Pforte, so lange der Bürgerkrieg in allen Teilen des Reiches tobt, aus der Geldklemme zu helfen? Der wirtschaftliche Bankrott allein genügt, um den Zusammenbruch der Türkei unvermeidlich zu machen.

Aber viele andere Faktoren wirken schon jetzt zu diesem Ziele mit. Zunächst leidet keineswegs nur die christliche Bevölkerung, sondern in hohem Maße auch die türkische unter dem allgemeinen wirtschaftlichen Niedergang. Von verständigen Türken, die nicht einfach durch den Fanatismus und die Beutegier sich hinreißen ließen, wird dies ganz offen ausgesprochen und sie tadeln aufs

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 113. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/115&oldid=- (Version vom 31.7.2018)