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Faden wieder aufnehmen und das Leben von neuem beginnen; aber sie leben noch unter der Angst und dem Schrecken eines täglichen Todes. Sie legen sich niemals nieder mit der Gewißheit, bis zum Morgen sicher zu sein und stehen niemals auf mit der Zuversicht, daß sie die nächste Nacht sehen werden. Sie wagen nicht von einem Dorf in das andere zu gehen; ihre Frauen wagen kaum aus der Thür zu gehen; sie sind in der traurigsten Gefangenschaft. Trotz aller Bemühungen, ihre Frauen zu beschützen, wagt doch kein Mann, seine Frau sein eigen zu nennen oder seine Tochter zu beschützen, wenn die straflos ausgehenden Schurken von Soldaten kommen. Die Kurden und die regulären Soldaten Seiner Majestät kommen in ein Dorf und lassen sich dort tagelang nieder, sie verlangen, was sie nur wollen und es muß zur Stelle geschafft werden. So verarmen oft Dorfleute, welche nicht in der üblichen Weise ausgeplündert wurden.

Die Art, wie diese armen Leute einem ins Gesicht sehen und fragen, was wird noch aus uns werden, genügt, um ein Herz von Stein zu zerschmelzen. Das Flehen, welches sich in ihren Zügen malt, wenn sie einen anblicken, um einen geringsten Schatten von Hoffnung auf Hilfe zu entdecken, ist so ergreifend, daß man oft davonlaufen möchte, um seine Gefühle in Thränen zu erleichtern. Die Nervenanspannung beim Anhören der Erzählungen dieser armen Dorfleute ist oft so stark, daß man sich ganz erschöpft von solcher Unterredung zurückziehen muß. Es ist nur eins, was hilft diese Anspannung zu erleichtern, und das ist die offenbar aufrichtige Dankbarkeit dieser Leute für das geringste Mitleid. Der Segen Gottes komme auf alle, die auch nur einen Becher kalten Wassers zu ihrer Erquickung gaben.

Besuch in Gurun. Ich besuchte den Ort vor kurzem. Die Lage des Volkes dort ist nicht zu beschreiben. Da, wo zuvor ein entzückender und blühender Ort lag, ist jetzt, soweit das Auge reicht, nichts als eine wüste, tintenschwarze Masse zu sehen, ein Bild von dem, was ein furchtbares Kriegsfeuer ausrichten kann. Die umgestürzten Wände von 15–1600 Häusern, die zuvor mitten in wohlgepflegten Fruchtgärten traulich eingenistet waren, legen nur noch Zeugnis ab von vernichtetem Glück und Wohlstand. Als ich von einem zerstörten Haus ins andere ging, hörte ich nur den durchdringenden Schrei der Angst von den Lippen der Frauen oder der Mütter, welchen man alles genommen hatte. Das überlebende Volk war in Rudeln zusammengepfercht

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 106. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/108&oldid=- (Version vom 31.7.2018)