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den Tag des Verhungerns weiter hinauszuschieben, aber ihre Felder liegen brach, ihre Häuser sind zertrümmert, und keine Hand ist ausgestreckt, um sie emporzuheben und aufzurichten. Was soll das Ende sein?

Heut Morgen kamen Dorfleute von Terjan, dem Mittelpunkt einer Gruppe von Dörfern, hierher, um Hilfe zu suchen. Ihr Aussehen war ein beredter Apell an das Mitleid. Sie hatten eine Entfernung von 18 Stunden zurückgelegt, über zwei schneebedeckte Bergrücken. Ein Mann, welcher wohlhabend genug gewesen war, um 18 oder 20 Gäste bequem in seinem Haus zu beherbergen, war jetzt in Lumpen gehüllt – und zwar so spärlich, daß sie kaum für den Sommer genug Schutz gewährt hätten. Einem andern, einem Riesen von Gestalt, waren beide Arme verkrüppelt durch die grausamen Hiebe der Soldaten. Die Dorfleute, von welchen diese Abgesandten kamen, hatten Mangel an allem, was ein menschliches Wesen gebraucht; kein Unterbett oder Decke war ihnen geblieben und während der Wintermonate haben sie alle in Stroh und Heu geschlafen. Auf folgende Weise haben sie sich für die Nacht eingerichtet; erst warfen sie Stroh auf die Erde und dann legten sich alle bis auf einen so nah als möglich nebeneinander; dieser deckte sie mit Heu zu und kroch dann selbst, so gut er konnte, unter das Heu. Einige dieser Dörfer wurden mit Unterbrechungen 40 Tage lang von den Kurden geplündert.

Aus einem Dorfe entflohen alle, welche dem Schwert entronnen waren, in die Berge, wo sie 3 Wochen blieben, ohne zu wagen, in ihre Häuser zurückzukehren. Während dieser Zeit hatten sie keine anderen Kleider als die, welche sie gerade anhatten, als der Ueberfall stattfand. Das Wetter war bitterkalt. 20 Kinder wurden diesen Dorfleuten in den Bergen geboren, aber nicht eins dieser Kinder überlebte diese Tage der Flucht. Von diesen Dörfern wurden 10 Mädchen geraubt, und nicht eine von ihnen ließ man zurückkehren. Die Türken und Kurden sind besonders hinter den Jungfrauen her. Bräute sind etwas weniger ihren Vergewaltigungen ausgesetzt; so machten sich die Dorfleute daran und verheirateten alle ihre Mädchen vom 8. Jahre ab – als ein Schutzmittel gegen die teuflischen Bestien. In den 32 Dörfern, welche die Terjan-Gruppe ausmachen, ist nicht ein unverheiratetes Mädchen älter als acht Jahre zu finden. – Wenn nur die Schreckenszeit ein Ende nehmen wollte, so würde dieses arme geduldige Volk den zerrissenen

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 105. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/107&oldid=- (Version vom 31.7.2018)