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noch andere Lebensmittel. In einigen Häusern war ein wenig Brod, in allen lagen kleine Bündel Gras, was jetzt ihre Hauptnahrung ist. Die Gesichter der Frauen und Kinder waren abgezehrt und gelb. Ich fragte einen kleinen Jungen, ob er heute Brod gegessen hätte, und er antwortete: „Nein“ – er hatte nur Gras gegessen. Andere Kinder sagten, sie hätten ein Stück Brod so groß wie meine Hand gegessen. Als wir uns auf den Erdboden setzten, von den meisten Dorfbewohnern umgeben, rauften einige Kinder fortwährend Gras aus, das sie samt den Wurzeln aufaßen. Soweit ich es beurteilen kann, liegen nur wenige Tage zwischen diesen Leuten und dem Hungertode. Ich hoffe ihnen noch vorher helfen zu können. Ich kaufe Korn, um es ihnen zu bringen. Aber was mich erschreckt, ist die Zukunft. Hier kann man sich einen Begriff von der Hoffnungslosigkeit machen. Sie sagen uns auch, daß die Beiträge geringer werden. Das scheint darauf hinzudeuten, daß dem Volk nichts bevorsteht, als ein langsamer Tod. Ich spare an den Gaben, trotz des beständig zunehmenden Druckes, und mache eine Liste der Dörfer, denen, im Sommer wenigstens, keine Unterstützung gewährt werden soll, ich verweigere Betten und Kleider, so sehr sie auch gebraucht werden – aber trotz allem wird unser Geld alle werden und was dann?

Können Sie uns keine Hoffnung geben? Die Leute sehen uns bittend an und fragen: „Ist keine Hoffnung für uns?“ Ich gebe diese Frage weiter. Vielleicht wird es licht werden; aber jetzt ist es sehr dunkel, außer wenn wir aufwärts blicken. … Die Bitten aus Arabkir, Palu und Peri sind dringend. Wir brauchen 100 000 Pfund für diese Gegend, haben aber nicht gewagt, darum zu bitten. Ja, wir selber können die Lage nicht vollständig übersehen. Nur wenn die furchtbare Not uns umlagert, so begreifen wir sie. Hören Sie nicht auf, zu suchen uns Hilfe zu schaffen.

Gestern besuchte ich noch ein anderes Dorf, Aschwan. Ich war 13 Stunden lang im Sattel, außer der Zeit, die ich brauchte, um in jedes einzelne Dorf zu gehen. Dieses Dorf hatte 75 Häuser, von denen die Hälfte verbrannt ist. Die besten Häuser sind verbrannt worden. Dies geschah durch benachbarte Türken und Kurden etwa acht Tage nach der Plünderung des Dorfes durch Kurden aus Dersim.

Die Leute haben noch mehr bewohnbare Zimmer als in Huelu oder Korpey. Es ist sehr schmerzlich, von Haus zu Haus zu gehen

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 103. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/105&oldid=- (Version vom 31.7.2018)