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Es giebt aber in allen Vilajets zahllose abgelegene Distrikte, in die noch kein Mensch gekommen ist, um Nachforschungen anzustellen.

Wir lassen, um einen persönlicheren Eindruck des entsetzlichen Elendes zu erwecken, einige beliebig herausgegriffene Berichte aus dem Notstandsgebiet folgen.

Charput. Wenige Armenier sind imstande gewesen die Frühlingssaat auszusäen; und die Bevölkerung ist ohne Ernte geblieben. Bei der Regierung ist sogar von den Lokalbehörden sofortige Hilfe nachgesucht worden, um eine allgemeine Hungersnot für den nächsten Winter abzuwenden.

In der Stadt Urfa allein sind 12 000 Notleidende, worunter 10 000 Witwen und Waisen, ihrer Ernährer beraubt, dem bittersten Mangel ausgesetzt sind.

Malatia. In den Tagen nach dem Massacre flohen alle Armenier aus ihren brennenden Häusern, nur um ihr Leben zu retten und behielten nichts, außer den oft ärmlichsten Kleidern, die sie anhatten, so daß viele die blutigen Kleider der Ermordeten anziehen mußten. Von 2000 geplünderten Familien mit 8000 Seelen giebt es nur 50 Familien, die nicht in der äußersten Verzweiflung sind. Zarte Frauen, deren Männer und erwachsene Söhne ermordet wurden, deren Häuser verbrannt, die aller Habe beraubt sind, leben in Hütten, dumpfen Kellern; früher Wohlhabende jetzt in Lumpen gekleidet, haben nicht Brot zu essen. Viele von ihnen gehen bettelnd von Thür zu Thür oder stehen Almosen heischend auf dem Markt. Da sitzen in ihren Läden, die welche sie zu Witwen gemacht und ihnen alle irdische Habe geraubt haben, werfen ihnen eine Handvoll Kupfermünzen hin und spotten der armen Frauen, daß sie wie die Hunde einige Brosamen zu erwischen suchen. 2750 Betten sind erforderlich, denn seit dem Massacre schlafen die armen Leute auf Stroh und Lumpen; ganze Familien schlafen der Wärme wegen auf einem Haufen, indem die älteren oft die kleineren als Kopfkissen gebrauchen; 2000 Kleidungsstücke sind erforderlich, wenn jede Familie nur eins erhalten soll, denn nur sehr wenige haben mehr als ein Kleidungsstück und von 7500 völlig mittellosen Personen braucht jeder 40 Para (18 Pfennig) allein täglich für Brot. Viele sterben vor Hunger und Kälte. Wenn diese Tausende von Witwen und Waisen in diesem Zustande gelassen werden, müssen sie im Jammer zu Grunde gehen und vor Verzweiflung sterben.

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 99. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/101&oldid=- (Version vom 31.7.2018)