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Hans Schmuttermayer’s Fialenbüchlein.
(Mit einer Tafel.)

Als vor manchen Jahrzehnten schon das Interesse an der mittelalterlichen Baukunst und der Formenwelt des gothischen Stiles erwacht war und man deren Systeme, wie die geschichtliche Entwickelung zu erforschen suchte, begnügte man sich nicht mit dem Studium der Bauwerke selbst, sondern forschte auch nach Aufzeichnungen der Lehre, um mit besserem Verständnisse auf deren Grundlage die Bauten studieren zu können und zugleich die technischen Ausdrücke zu finden, welche man nun zur Bezeichnung von Bautheilen nöthig hatte, die sich in der bis dahin allein studierten antiken und allein geübten antikisierenden Kunst nicht fanden, für welche also die geläufigen technischen Ausdrücke nicht hinreichen konnten.

Es wurde dieses Suchen nur in wenigen einzelnen Fällen belohnt; denn die alten Meister hatten zwar vortrefflich ihre Kunst verstanden und herrlich gebaut, aber nur sehr wenig über die Theorien aufgezeichnet, denen sie gefolgt, und noch weniger war der Druckerschwärze verfallen. Sie betrachteten vielmehr geradezu ihre Formenlehre als eine Geheimlehre, die sich durch mündliche Tradition von Geschlecht zu Geschlecht unter Meistern und Gesellen fortpflanzen, aber vor Laien streng gehütet werden sollte. Indessen hatte sich doch einer der vornehmsten unter den Meistern, Matthäus Roritzer, Dombaumeister von Regensburg, durch die Bitten des Eichstätter Bischofs Wilhelm von Reichenau bestimmen lassen, einzelne Theile der Theorie nicht blos aufzeichnen, sondern auch 1486 drucken zu lassen, ein Büchlein, das sehr selten ist, aber doch bekannt war. Es ist das „Büchlein von der fialen Gerechtigkeit“[1], an welches sich noch eine ganz kurze Anweisung zum „Machen der Maspreter und der plumen auf den wimpergen“ anschließt.

Jüngst hat sich nun noch ein zweites, ähnliches Schriftchen gefunden, das sich bis dahin nicht blos der Kenntniß der Kunstforscher, sondern auch jener der Bibliographen zu entziehen gewußt, dessen Existenz gänzlich unbekannt war, und das sich wol auch nur in dem einen Exemplar erhalten hat, welches aufgefunden worden ist. Es befand sich im Besitze des Architekten Philippi in Hamburg und wurde durch Vermittelung der Prestel’schen Kunsthandlung in Frankfurt a. M. für das germanische Museum erworben, in dessen Bibliothek es die Nummer 36,045 trägt. Das Schriftchen besteht aus 4 Quartblättern (2 Doppelquartblättern) Text, ohne Custoden und Seitenzahlen, und aus 2 Quartblättern (1 Doppelquartblatt) Zeichnungen in Kupferstich. Die Höhe eines Blattes beträgt 210–217 mm., die Breite 160 mm., die Breite einer Zeile 80 mm., die Höhe des Satzes einer vollständig bedruckten Seite (Bl. 2a) von 35 Zeilen 122 mm. Die erste Zeile jedes Absatzes ist mit größeren Typen gedruckt. Vom letzten Blatte des Textes ist die untere, kleinere Hälfte von etwa 88 cm. Höhe der ganzen Breite nach weggeschnitten, ebenso


  1. Wieder abgedruckt in Heideloff’s Bauhütte des Mittelalters in Deutschland (Nürnberg, 1844), S. 101–116 und, in heutiges Deutsch übertragen, von Reichensperger neu herausgegeben. (Trier, 1845.)